Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Günter de Bruyn: Sünder und Heiliger

Das ungewöhnliche Leben des Dichters Zacharias Werner
 
„Ich bin nicht verrückt, ich kann nur nicht sprechen!“ Als Günter de Bruyn im Frühjahr 1945 schwer am Kopf verwundet wurde, schrieb ein Sanitäter auf ein Schild: „Kopfverletzung – nicht auskunftsfähig.“ Erst langsam realisierte der lallende Soldat, dass nicht bloß sein Sprachzentrum betroffen war, sondern dass er auch die Fähigkeit verloren hatte, sich schriftlich überhaupt zu äußern – aus der erhofften „Gegendarstellung“ wurde deshalb nichts. Von der Verzweiflung, die ihn darauf ergriff, berichtet der Schriftsteller in seiner „Zwischenbilanz“ (1992). Der Leser kann darin miterleben, wie er damit beginnt, sich Geburtsjahre von Dichtern ins Gedächtnis zu rufen oder Namen von Karl-May-Figuren aufzuzählen. Als er dieses literarische Pensum mühelos bewältigte, fing er an, wieder Hoffnung zu schöpfen.
 
Als heilsam für Leib und Seele erwies sich der Vorsatz des Achtzehnjährigen, seine Erlebnisse fortan aufzuzeichnen: De Bruyn verwirklichte dieses Programm nicht bloß mit seiner „Zwischenbilanz“, die eine Kindheit zwischen Weimarer Republik und NS-Zeit beschreibt, sondern auch mit dem zweiten Teil seiner Lebensgeschichte „Vierzig Jahre“ (1996). Beide eröffnen Einblicke in das spannungsreiche Miteinander von Metropole, Macht und Milieukatholizismus und schildern einen jungen Menschen, der im Kraftfeld sich überstürzender Ereignisse nach Wahrheit sucht: Wie reagiert man auf politische Heilsversprechen? Welche Rolle spielen Rituale? Schützt der Glaube vor dem Rückfall in die Barbarei?
 
„Die Sicherheit, der ich das Glück meiner frühen Kindheit verdanke“, erklärt der am 1. November 1926 in Berlin geborene de Bruyn in der „Zwischenbilanz“, „basierte neben der Liebe der Eltern zu uns und zueinander auch auf einem Familien-Katholizismus, der unser Leben in die festen Regeln von Tisch- und Abendgebet, von sonntäglichem Kirchenbesuch und fleischlosen Freitagen zwängte, sonst aber von Person zu Person individuell gefärbt war“. Und vom Vater lernt er, „daß die Kirche (im Gegensatz zu den Preußen, die alles perfekt haben wollten) zwar Gehorsam verlangt, aber die Unvollkommenheit von Sündern einkalkuliert.“ Ähnlich wie der Rheinländer Heinrich Böll verweigerte sich der Diasporakatholik der Nazi-Diktatur. Und gering war für de Bruyn, der im Osten Deutschlands blieb, aber die DDR-Zensur kritisierte, die Versuchung, auf politische Utopien zu setzen, weil er sich – wie der Autor zur Verleihung des Böll-Preises erklärte – stets seinem christlich geprägten Gewissen verpflichtet fühlte.
 
Dass Glaube und Existenz für den Romancier eng verknüpft sind, ist jetzt aktuell nachzulesen: in der Neuerscheinung „Sünder und Heiliger“. Darin porträtiert er „Das ungewöhnliche Leben des Dichters Zacharias Werner“ (1768-1823). Werner wuchs in Königsberg auf und begann ein unstetes Wanderleben, das ihn über Berlin und Weimar nach Wien führte. Die beiden Pole, zwischen denen sich die Existenz dieses Ruhelosen bewegte, waren sein kompliziertes Verhältnis zu Frauen und seine spätere Bekehrung zum Katholizismus, die ihn endgültig zum Außenseiter in Preußens Kulturgeschichte machte.
 
Da der Königsberger Autor vom Berliner Publikum als „zu mystisch“ empfunden wurde, schmiedete er mit Iffland den Plan, das Reformations-Schauspiel „Die Weihe der Kraft“ auf die Bühne zu bringen. Vom Thema des Stücks erhoffte sich der Dramatiker, dass „die Kritik an seinem (damals vermeintlichen) Katholizismus ein für alle Mal enden würde. Aber da täuschte er sich.“ Häme brachte Werner vor allem die Gestalt der Katharina von Bora ein, die bei der Berliner Uraufführung 1806 zur Retterin des Protestantismus avancierte. Mit Spitznamen wie „Kraftdicher“ oder „Dr. Luther“ versehen, suchte der an der Spree gescheiterte Autor anderswo sein Glück, wurde eine Zeit lang von Goethe protegiert, ehe er auch in Weimar die Unterstützung verlor.
 
Nüchtern, aber mit Sympathie schildert de Bruyn, wie dieser merkwürdige Heilige nach Reisen quer durch Europa schließlich nach Rom pilgerte, um seinem Leben eine neue Richtung zu geben – 1811 konvertierte er dort zum Katholizismus. Nachdem es ihm gelungen war, eine päpstliche Annullierung für drei geschiedene Ehen zu erreichen, wurde er zum Priester geweiht, suchte Kontakt zu dem Redemptoristen Klemens Maria Hofbauer und füllte 1815 während des Wiener Kongresses die Kirchen. Seine Predigten wurden „teils begeistert aufgenommen, teils als Skandal empfunden“, weil er sich nicht scheute, seine angefochtene Existenz in die Waagschale zu werfen und die Mächtigen zu kritisieren. Der als Außenseiter in die österreichische Hauptstadt gekommene Werner wurde bei seinem Tod von Menschen aller Stände betrauert.
 
Die „Zusammenschau von Ich und Welt“, so de Bruyn in dem Band „Das erzählte Ich“ (1995), folge „bei aller Abkehr von einer religiösen Weltsicht“ noch immer dem Schema des Augustinus, wonach der Sinn des Lebens nur erzählerisch zu vergegenwärtigen sei. Dass dem Schriftsteller dies seit Jahrzehnten glückt, macht seine Bücher zu Meisterwerken.

Frankfurt: Fischer Verlag. 2016
224 Seiten
22,00 €
ISBN: 978-3-10-490145-9

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