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Hans-Georg Gradl: Die Offenbarung des Johannes
Die Erfahrung, dass eine Lektüre schwer verdaulich sein kann, findet sich in der Offenbarung des Johannes im wahrsten Sinn des Wortes. Das Büchlein, das der Seher auf der Insel Patmos auf Geheiß des Engels buchstäblich verspeisen soll, bekommt ihm schlecht (Offb 10, 9-11). Nicht wenigen Leserinnen und Lesern liegt das letzte Buch des Neuen Testamentes aufgrund seiner rätselhaften und gewaltsamen Szenerie ähnlich schwer im Magen – und das nicht nur zu unserer Zeit. Bereits der bekannte Maler und Buchdrucker Lucas Cranach der Ältere wählte 1522 für die Illustration von Luthers Septembertestament bedrohliche und zum Teil verstörende Bilder, die die Rezeption der Apokalypse maßgeblich beeinflusst haben. Das „Buch mit sieben Siegeln“ aus der Johannesoffenbarung ist so nicht zuletzt für dessen eigene Auslegung zum geflügelten Wort geworden. Vor diesem Hintergrund betont Hans-Georg Gradl, seit 2013 Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Universität Trier, im Vorwort seines Kommentars die Notwendigkeit von Leseschlüsseln, um die Schleier der Apokalypse zu lüften (4f).
Schritt für Schritt soll die Metaphorik und Gedankenwelt der Offenbarung heutigen Leserinnen und Lesern erschlossen werden. Dabei reiht sich das Buch in den Aufbau der Kurzkommentar-Reihe zum Neuen Testament des Katholischen Bibelwerks ein. Nach einer knappen und allgemeinverständlichen Abhandlung der sogenannten Einleitungsfragen (Autor, Adressaten, Quellen, Gattung, etc.) werden stets ein Abschnitt des Bibeltextes und dessen Kommentierung auf einer Doppelseite gegenübergestellt. Lesende finden dementsprechend zu den einzelnen Perikopen kompakte Erläuterungen, die den Umfang einer Seite nicht übersteigen. Überhaupt besticht der Aufbau des Kommentars durch Übersichtlichkeit und Orientierungshilfen unterschiedlichster Art. So finden sich auf beiden Seiten des ausklappbaren Buchumschlags Gliederungsvorschläge für die Johannesoffenbarung – in tabellarischer Form und als gelungene graphische Darstellung –, die das Strukturelement der sieben Sendschreiben, Siegel, Posaunen und Schalen aufgreift. So lässt sich das Gelesene stets auf einen Blick im Makrotext der Offenbarung verorten, ohne vor- oder zurückblättern zu müssen. Zusätzliche Hilfestellung bietet anstelle eines Klappentextes eine Landkarte Kleinasiens, auf der die Adressaten der Sendschreiben geographisch verortet werden. Abgerundet wird der Kommentar neben weiterführenden Literaturhinweisen von einem kurzweiligen „Einmaleins der Offenbarung“, das die Zahlenwelt der Apokalypse zu entschlüsseln versucht.
Dennoch ist Gradls Kommentar kein neutral-deskriptives Sachbuch, das einen rein etischen Zugang zu einer antiken apokalyptischen Schrift eröffnet, sondern er beinhaltet immer wieder auch emisch-christliche Interpretationen, die den Text nicht nur in seinem Entstehungskontext, sondern als heilige Schrift des eigenen Kanons verorten. Gradls Buch will nicht nur informieren, sondern theologisch überzeugen. Dafür bietet es bereits im Einleitungsteil lebensweltliche „Verständnishilfen“ zum Teil aus zeitgenössischer Unterhaltungsliteratur an, die helfen sollen, die Aussagen der Offenbarung innerhalb einer christlichen Weltanschauung verständlich zu machen. Dazu passt, dass die Adressaten des Sehers in der Kommentierung Gradls häufig genug „die Christen“ sind.
Neben dieser theologischen Ausrichtung des Kommentars nimmt der Autor auch eine produktionsorientierte Perspektive ein und bietet mit seiner in vielen Publikationen zur Johannesoffenbarung unter Beweis gestellten Expertise zu zeit- und ideengeschichtlichen Kontexten und apokalyptischer Metaphorik kompakte Verstehenshilfen, die den Text einem breiten Publikum zugänglich machen. Dabei wird großer Wert auf Anschaulichkeit gelegt, wenn Gradl die Leserinnen und Leser in Bezug auf die Entstehung des Textes mit in die Schreibstube des Johannes nimmt: „Die Offenbarung findet zwischen Buchrollen statt. Während Johannes die Schriften seines Volkes liest, lüften sich die Schleier. Im Lesen geht ihm etwas auf.“ (13) Ein kultur- und medienwissenschaftlich sensibler Blick auf identätskonstitutive Narrative aus dem zweiten Jahrhundert wird sich gegenüber einer solch optimistischen, schriftbasierten Rekonstruktion der Entstehung der Offenbarung als „Collage alttestamentlicher Zitate“ (13) zurückhaltend zeigen. Eine große Stärke von Gradls Zugang zur Johannesoffenbarung ist jedoch deren synchrone Analyse als „durchkomponierter Visionsverlauf“ (14), die weniger an literarkritisch sezierten Textschichten als an einer Aufschlüsselung des narrativen und theologischen Gesamtentwurfs interessiert ist. Hans-Georg Gradls Kommentar zur Johannesoffenbarung eröffnet dadurch auch fachfremden Leserinnen und Lesern ein bekömmliches Leseerlebnis.
Aus dem Urtext übersetzt und kommentiert
Stuttgart: Katholisches Bibelwerk e.V. 2022
240 Seiten
19,80 €
ISBN 978-3-948219-97-0