Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hans-Joachim Sander: Nach der Geduld und jenseits von egal

Komplexe Sachverhalte machen komplexe Buchtitel erforderlich. Nach „Anders glauben, nicht trotzdem“ von 2021 hat der Salzburger Dogmatiker Hans-Joachim Sander nun „Nach der Geduld und jenseits von egal“ vorgelegt, mit dem die Situation des katholischen Glaubens und der gläubigen Menschen angesichts des fundamentalen Krisenszenarios ihrer Kirche analysiert wird. Sander, bekannt für klare Worte und pointierte Formulierungen, beschönigt dabei nichts. Die Austrittszahlen markieren das Scheitern der Kirche, nicht das Scheitern derjenigen, die austreten. Sander verwehrt sich gegen allzu simple binäre unterkomplexe Entgegenstellungen wie etwa „Glaube ja – Kirche nein“. Das Nein zur Kirche ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit, anders Ja zu ihr sagen zu können. Dies gilt für die Ausgetretenen, aber noch viel mehr für diejenigen, die in der Kirche bleiben.

Die Beschreibung dieser Komplexität wird u. a. mit zwei Kunstwerken veranschaulicht: die Laokoon-Gruppe im Vatikan und das absurde Theaterstück „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett. Die unterschiedlichen musealen Rekonstruktionsversuche der fehlenden Teile der im 16. Jahrhundert aufgefundenen Skulptur stehen für die unterschiedlichen neuzeitlichen Versuche, mit der zunehmenden Komplexität umzugehen. Das absurde „Warten auf Godot“ im 20. Jahrhundert macht die Absurdität der Kirche deutlich, die ihren eigenen Glaubwürdigkeitsverlust weiter mit nicht mehr passenden Reformschläuchen beheben will, so Sander.

Im ersten von sechs Teilen werden „revoltierende“ Initiativen vorgestellt, die Nein sagen und es auch tun. Maria 2.0, Liebe gewinnt, Out in Church oder auch die Aussetzung von Eucharistiefeiern wollen aufrütteln. Durch ihr anderes Ja gewinnen diejenigen, die diese Initiativen tragen, als Individuen Souveränität im Glauben. Diese Souveränität erlangen diejenigen, die nicht mehr auf die Reformen warten, sondern revoltieren. Ihre Revolte richtet sich gegen die permanenten Reformversprechen innerhalb der Kirche. Der Absurdität des Wartens auf Reformen ist der zweite Teil gewidmet. Solange die durch den Missbrauchsskandal sich dynamisierende Unglaubwürdigkeit nicht wahrgenommen und dagegen revoltiert wird, verlaufen alle Reformbemühungen bis hin selbst zur aktuellen Weltsynode zur Synodalität in die Leere eines absurden Wartens.

Der Klerikalismus innerhalb der Kirche, sei es der von Klerikern oder von Laien, ist Thema des dritten Teils. Gegen dessen Heuchelei zu rebellieren, erfordert eine neue theologische Tugend, die des Widerstands. Widerstand zu leisten, führt zu seiner Selbstrelativierung der Kirche, in der der Glaube nicht mehr nur bewahrt werden soll, sondern sich neu zu bewahrheiten hat.

Die Instanz einer solchen Bewahrheitung kann für Sander nur ein Konzil sein. Ein Konzil allein ermöglicht es der Kirche, Sprünge im Glauben nach vorne zu machen, wie das letzte Konzil gezeigt hat. Diese These, im vierten Teil eingeführt, wird im folgenden Teil inhaltlich präzisiert. Ein Konzil muss sich dem Scheitern der eigenen Institution stellen, muss Nein sagen, um wieder Ja sagen zu können. Die Unglaubwürdigkeit der Kirche lässt sich in ihrer Komplexität nicht mehr durch einzelne Lehrinstanzen wie den Papst oder die römische Kurie bewältigen, sie erfordert ein Konzil als höchste kirchliche Lehrinstanz. Dessen Zusammensetzung muss freilich anders und demokratischer gestaltet sein, um wirklich ein Konzil der Kirche zu sein. Dass ein Papst sich selbst relativieren kann, zeigt Johannes XXIII. Dass die Konzilien in der Lage sind, der Komplexität des Glaubens gerecht zu werden, zeigt die Geschichte der Konzilien.

Die Revolte des Nein zur bestehenden und das neue Ja führen zu einer anderen Form der Identifizierung mit der Kirche, so die Ausführungen im letzten Teil. Wem diese Kirche nicht egal ist, der wird auf die Selbstrelativierung der Kirche von außen durch die Bedeutung der Einzelnen in der Demokratie und die Rolle der Anonymität in der digitalen Welt zurückgreifen. Beides, die Anonymität der Gottesrede und Betonung der Individualität, sind im Evangelium grundgelegt.

Die Kirche macht sich überflüssig. Ihre bestehenden Instrumente, mit der Komplexität ihres Glaubwürdigkeitsverlusts umzugehen, greifen nicht mehr. Nach der von Sander konstatierten ekklesiologischen Überflüssigkeit muss sich die Kirche über-flüssig machen, d. h. neue prozessuale Wege der Überwindung ihrer Unglaubwürdigkeit finden. Dies gelingt nur, wenn die Gläubigen in ihrer souveränen Individualität wahrgenommen werden. Für Sander kommt daher mit Gott und der Kirche als dritte Größe das Individuum innerhalb, aber auch außerhalb der Kirche ins Spiel. Letztlich hat das Individuum zu entscheiden, ob es glaubend in der Kirche bleibt oder glaubend die Kirche verlässt. Für beide Varianten ist dieses Buch geschrieben. Sanders Werk lässt sich lesen als ein postmoderner Abgesang eines an seiner Kirche verzweifelnden alternden Theologen, es lässt sich aber auch als ein wissenschaftlich grundiertes Hoffnungsbuch eines gläubigen Individuums in der Welt von heute an seine Kirche lesen, sich von der Botschaft des Evangeliums, über die die Kirche keine exklusive Verfügungsmacht mehr hat, dogmatisch zu erneuern, um so die Präsenz Gottes überfließen zu lassen.

Auch wenn dem Buch ein Schlusslektorat wohl gutgetan hätte, so ist es doch ein Lesevergnügen besonderer Art. Sander ist mit seiner Kunst, komplexe Sachverhalte mit alltagssprachlichen Wendungen spielerisch zu formulieren, ein souveränes Beispiel dafür, dass sich Theologie nach distanzierter wissenschaftlicher Nüchternheit und jenseits akademischer Glasperlenspiele (noch) nicht überflüssig macht.

Glaubwürdig katholisch glauben, wenn sich die eigene Kirche überflüssig macht
Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag. 2024
272 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-7867-3347-8

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