Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hans Joas: Warum Kirche?

Der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Soziologe Hans Joas hat unter dem etwas irreführenden Titel „Warum Kirche? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft“ eine Aufsatzsammlung vorgelegt, die einen guten Einblick in das Denken dieses über die Grenzen seines Fachbereichs hinaus bekannten Intellektuellen gibt. Das Buch wendet sich an einen breiten Leserkreis, ist ohne umfassende Kenntnisse soziologischer Theoreme verständlich und hat sich zum Ziel gesetzt, grundlegende Orientierung in der unübersichtlichen religiösen bzw. kirchenpolitischen Lage der Gegenwart zu bieten. Behandelt werden zum einen klassische religionssoziologische Fragestellungen. Joas zerlegt noch einmal geduldig die mit der klassischen Säkularisierungsthese einhergehenden Anschauungen in seine Einzelbestandteile und plädiert erneut für eine Verabschiedung dieser gängigen Metaerzählung vom Religionsverlust durch Modernisierung. Thesen zur Rolle der universalen Werte in der Moderne, insbesondere der Menschenrechte, schließen sich an.

Auf den Titel im engeren Sinne bezogene Überlegungen finden sich im zweiten Kapitel, das die Kirche-Sekte-Typologie von Ernst Troeltsch aktualisierend aufgreift, sowie verstreut in anderen Abschnitten des Buches. Joas möchte auf den aus soziologischer Sicht überraschenden Tatbestand aufmerksam machen, dass so etwas wie Kirche, also eine zweitausendjährige Kontinuität einer Sozial- und Rechtsstruktur, überhaupt existiert. Das sei, wie der Blick auf andere religiöse Traditionen zeige, nicht selbstverständlich, verlange allerdings auch ein neues Nachdenken über die Gestalt von institutionalisierter Religion bzw. „institutionalisierter Transzendenz“. Die katholische Kirche stehe – so Joas – nicht nur aus theologischer Verantwortung heraus vor der Aufgabe, Zentralisierung zurückzunehmen, um den kulturellen Eigenheiten der Kontinente ein Eigenrecht zuzugestehen; dies sei auch aus soziologischer Perspektive unumgänglich.

Zwei Aufsätze nehmen eine Thematik aus dem Buch „Kirche als Moralagentur?“ aus dem Jahr 2016 auf und setzen sich kritisch mit der Übernahme der Merkel‘schen „Wir-schaffen-das“-Formel durch die Kirchenleitungen auseinander. Der katholische Sozialdemokrat Joas wiederholt hier implizit seine Warnung vor einer Verbürgerlichung des Christentums, das durch Wortführer eine milieuspezifische Moral, die man sich finanziell leisten können muss, als verbindlich vorlege und damit Distinktionsgewinne einfahren wolle. Eine solche Normierung exkludiere nicht nur, sie sei auch nicht – wie in diesen Milieus behauptet – die logische Konsequenz aus der liebesuniversalistischen Position des Christentums. Partikulare konkrete Verantwortlichkeiten und Regeln politischer Klugheit könnten nicht einfach mit Verweis auf ein vermeintlich alle Menschen unterschiedslos normierendes christliches Gebot der jederzeitigen und andauernden Flüchtlingshilfe außer Kraft gesetzt werden. Zusammengefasst: Aus christlicher Sicht sei es nicht verboten, Zuwanderung restriktiv zu reglementieren.

Zwei interessante und anregende Aufsätze beschäftigen sich mit den biographischen Aspekten von Religiosität in der Moderne. Die Interpretation von Alfred Döblins Roman „November 1918“ geht auf die Frage nach der Veranlassung bzw. Verursachung von „Konversionen“ durch Kontrasterfahrungen ein – ein Thema, das mit Blick auf den polnischen Philosophen Leszek Kolakowski weitergeführt wird. Döblin hatte sich 1943 zum Katholizismus bekannt, der Dissident Kolakowski sich zunächst aus der stalinistischen Glaubensgemeinschaft sukzessive gelöst, um am Ende seines Lebens eine fast reaktionär anmutende Verteidigung der Kirche vorzulegen. Joas macht in anschaulicher Weise darauf aufmerksam, dass die Kehrtwende in Lebensentscheidungen in der Moderne eine grundlegende Option ist, deren Verständnis nicht auf im engeren Sinne religiöse Glaubensbekenntnisse verengt oder gar als Ausdruck psychischer Labilität diskreditiert werden darf. Sie kann eine notwendige und moralisch reife Konsequenz erlittener Kontingenzen sein.

Fazit: Hans Joas legt in dem vorliegenden Bändchen eine religionsfreundliche Sozialphilosophie vor, die Erfahrungen insbesondere seiner Aufenthalte in den USA aufnimmt. Seine Vorstellungen von einer „missionarischen Kirche“ wären beim Blick auf die bundesdeutsche Wirklichkeit sonst kaum nachvollziehbar.

Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft
Freiburg: Herder Verlag. 2022
240 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-451-39064-7

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