Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hans Peter Duerr: Diesseits von Eden. Über den Ursprung der Religion

Bekannt wurde der Ethnologe Hans-Peter Duerr (geb. 1943) durch sein Buch „Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation“ (1978). Ich hatte damals dieses Buch verschlungen und war entsprechend gespannt auf sein Alterswerk. Es umfasst 751 Seiten, 472 Seiten Text, 129 Seiten Anmerkungen und 142 Seiten Literaturangaben und andere Nachweise bzw. Register.

Vorweg: Bemerkenswert ist an dem Buch, dass der Untertitel „Über den Ursprung der Religion“, was eine begriffliche Aufarbeitung betrifft, eigentlich bedeutungslos ist. Vielleicht habe ich einige Seiten übersehen, aber im Hinblick auf eine begriffliche Auseinandersetzung mit Religionstheorie(n) im weitesten Sinne habe ich insgesamt ungefähr 21 Seiten mit einschlägigen, oft nur wenige Sätze umfassenden Argumentationen gefunden (9, 26f, 31, 36ff, 83, 90, 173f, 181f, 191, 231, 233, 243, 328, 373, 463, 472). Es scheint ihm, wie man schon auf der ersten Seite lesen kann, ein Anliegen zu sein, Religionswissenschaftler bzw. -philosophen durch eine Überfülle von Zettelkasteninformationen als „verkappte() Theologen“ (9, hier unter Bezug auf Günter Lanczkowski) zu entlarven. dazu muss Duerr zunächst einmal metaphysische Fragestellungen, die nichts direkt mit weltanschaulichen Fragestellungen zu tun haben, weil sie von atheistischer wie poly- oder monotheistischer Perspektive her einen gleichartigen – nämlich philosophischen – Ausgangspunkt haben, abwerten. Sie beziehen sich darauf, wie man mit dem Problem, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, und weiterhin damit, wie man mit der grundlegenden Verschlossenheit gegenüber aller empirischen Erfahrung dieses Seins / apersonalen Urgrundes von Allem / Gottes / der Götter etc., seiner / ihrer radikalen Transzendenz sachgemäß und ohne Projektion und Wunschdenken umgehen können soll. Erst nach der Selbstvergewisserung über diese gemeinsame Ausgangsposition trennen sich dann die weltanschaulichen Perspektiven. Transzendenz ist für Duerrs objektivistische Perspektive hingegen das, was diejenigen als existent annehmen, die in trüben Hinterwelten herumfischen wollen, und das zugleich von den christlichen Theologen in einer Immunisierungsstrategie als das „totaliter aliter“ bezeichnet werde, „weshalb das Christentum meilenweit über allen ‚Stammesreligionen‘ stehe, die von Transzendenz gar keinen Begriff hätten“ (37). Dass das Bilderverbot möglicherweise eine große humane Erfindung ist, das ist für ihn wohl undenkbar. Als Ethnologe geht es ihm um die Bewahrung anderer Religionsformen von dem Vorwurf des Primitivismus. Dass das Bilderverbot möglicherweise eine der wesentlichen Abwehrinstanzen gegenüber fanatischem psychischem oder politischem Religionsterror darstellt, entspricht wohl nicht seiner Perspektive. Entsprechend muss er seinen Begriff von religiöser Erfahrung sehr eng führen: Er hält es für „vielleicht sinnvoll, den Begriff religiöse Erfahrung für solche Erlebnisse zu reservieren, in denen ‚übernatürliche‘ personale Wesen ‚gesehen‘ und deren ‚Präsenz‘ gesprüht werden oder bei denen die Betreffenden davon überzeugt sind, daß derartige Wesen sie bewirkt haben“ (31). Ich habe den Eindruck, dass Duerr in der Tradition von Auguste Comtes Konzept des „metaphysischen Stadiums“ der Menschheit philosophische Grundbegriffe als willkürliche Begriffsschnitzereien abtut.

Das ganze Buch besteht weitgehend aus einer Darstellung von Einzelphänomenen. Wir finden – zum Teil hochinteressante Informationen – über Themen in Kapiteln mit Titeln wie „Erlebnisse während der Schlafanalyse / Die Erscheinungen der heiligen Jungfrau / Sex mit Jesus / Schamanismus und Besessenheit / Dämonen, Geistermedien und Multiple Persönlichkeiten“. Die Fülle der oft nur ganz knapp dargebotenen Belege droht den Leser zu erschlagen. Um ein Beispiel zu nehmen: Auf der Seite 322 finden sich folgende Bezüge unter der Kapitelüberschrift „Besessenheit als anale Penetration und als Eröffnung von Freiheiten“: magersüchtiges Mädchen gleich / Grab eines Sufis im südindischen Murugmalla / Neuengländerinnen im siebzehnten Jahrhundert / Dorf der kastenlosen Mādigas / heranwachsende Mädchen im Tonga-Archipel / Tungusen / Qemant im nordöstlichen Äthiopien / die „fromme Frau eines samoanischen Pastors (,die) splitternackt und laut die unanständigsten Dinge ausposaunend im Dorf umher(-lief)“. Die Sachhaltigkeit der vielen Bezüge kann ich nicht überprüfen. Mir ist als Dogmatiker schmunzelnd aufgefallen, dass Duerr die Unbefleckte Empfängnis (Thema Lourdes, 210f) mit der jungfräulichen Empfängnis verwechselt.

Seine Darstellung der inhaltlichen Beispiele erinnert mich stark an Charles Hoy Fort (1874-1932), einen US-amerikanischen Autor und Pionier der Beschäftigung mit unerklärten Phänomenen. Dieser widmet sich seinerzeit – in der Tradition der Paradoxographie stehend – dem Sammeln von „fortianischen“ (Theodore Dreiser) Meldungen. Fortianische Meldungen sind Nachrichten über seltsame Ereignisse. Dazu gehören beispielsweise Meldungen über Eis-, Fisch-, Froschregen, Super-Luftschiffe von anderen Planeten, uns überwachende Geister anderer Zeitalter etc. Duerr hat seinen – nicht parawissenschaftlichen, sondern empirisch fundierten – religionsfortianischen Zettelkasten zu einem Buch thematisch geordnet zusammengefügt. Und ähnlich wie Charles Hoy Fort, dessen Hauptinteresse eigentlich es war, die Beziehung zwischen den Phänomenen zu finden, gelingt es ihm nicht, trotz aller Vielzahl der Belege, eine Theorie über den Ursprung der Religion zu exponieren.

Und das ist sehr schade im Hinblick auf die Wirkung dieses monumentalen Buches. Wenn beispielsweise für die Sichtung der vielen ohne Überlegenheitsdünkel geschilderten religiösen, religionsförmigen, sexuellen etc. Selbstvollzüge Kriterien dargelegt würden, wie philosophische Durchdringung (auch etwa im Hinblick auf das in vielen Religionsstandpunkten thematisch oder unthematisch präsente Bilderverbot) oder die Frage nach der Menschenwürdigkeit oder -unwürdigkeit eines bestimmten Selbstvollzugs, und wenn Metaphysik als philosophische Reflexionsmethode nicht in der gleichen Hinsicht thematisch wäre wie ein geschildertes Phänomen, dann wäre dieses so viel Fleiß und Engagement in sich bergende Spätwerk nicht letzten Endes so enttäuschend ausgefallen.

Berlin: Insel Verlag. 2020
753 Seiten m. s-w Abb.
38,00 €
ISBN 978-3-458-17844-6

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