Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Heinz-Dieter Neef: Das Richterbuch heute lesen

„Vor kurzem las ich die Charakterisierung dieses Buches als ‚Abschlachtungsbuch‘.“ Gegen diese Bezeichnung und Bewertung wehrt sich der Autor Heinz-Dieter Neef, gleichwohl er die Gewaltthematik im Richterbuch (und in vielen anderen Texten des AT) nicht verleugnet. Sie lassen fragen, warum Gott nicht eingreift – eine Frage, die auch gegenwärtig angesichts der eskalierenden Kriegsszenarien in der Welt gestellt werden kann. Doch was können heutige Leserinnen und Leser dem Richterbuch abgewinnen?

Die Gewalttexte handeln von Angriffskriegen auf das Volk Israel sowie von innerisraelitischen Auseinandersetzungen in einer äußert bedrohlichen Epoche, in der das Volk in jeglicher Hinsicht schwach und gespalten war. Das Überleben dieser heftigen Situationen beschreibt der Autor als ein Wunder, das vor allem den Richtern zu verdanken ist. Neben den Gewalttexten ist auch das Fehlen von Emotionen angesichts von Gewalt und das Fehlen moralischer Urteile befremdlich. Auch hier betont Neef, dass das Wertvolle und Besondere des Richterbuchs (Ri) darin besteht, dass es von Menschen erzählt, die angesichts all dieser Katastrophen nicht von ihrem Glauben gelassen haben. Die Richter werden daher mit David und den Propheten im Hebräerbrief in einem Atemzug genannt. Die Funktion der Richter bestand darin, das Volk wieder in die Freiheit zu führen. Die Richtergestalten sind dabei sehr unterschiedliche Figuren, die man sich nicht als Helden vorstellen darf. Der Geist Gottes befähigt sie, dass das Volk am Glauben an den Bund Gottes mit ihm festhält.

Die historische Rekonstruktion des jeweiligen Zeitkontextes der Texte trägt nicht nur zur Einordnung und zum besseren Verständnis der Texte bei, sondern ist notwendige Voraussetzung, um Ri zu verstehen. Und genau das ist das Anliegen des Autors, der sorgfältig Schlüssel zum Verständnis der Texte aufzeigt.

Wie gelingt es Neef, diese aktuelle Botschaft des Richterbuchs aufzuzeigen? Mit seinem gut strukturierten Aufbau führt er seine Leserschaft fundiert und verständlich in diese sperrige Textwelt ein. In einem Einleitungsteil wird sofort deutlich gemacht, dass es um eine Neuentdeckung des biblischen Buches geht. Dazu helfen die Klärung des Buchnamens und die Einordnung desselben in den Kanon des AT. Der literarische und der historische Kontext werden erschlossen (Komposition, Zeit, Entstehung). In einem weiteren Abschnitt geht es um die biblische Grundlegung, wobei Ri 1,1-3,6 gemeint ist. Die Siege und Niederlagen der Stämme Israels, das Versagen des Volkes, die Josua- und Richterzeit sowie der Rahmen der Richtererzählung stehen hier im Zentrum. Thematisch behandelt Ri die Gefährdungen und Verfehlungen der israelitischen Stämme bei der Sesshaftwerdung und der Volkwerdung. Insbesondere Ri 1 kann als Brückentext zum Josuabuch erkannt werden. Theologisch spannend ist die Beobachtung des Autors, dass der Verfasser des Richterbuchs keinen Widerspruch zwischen dem Mitgehen Gottes und den nichteroberten Gebieten sieht. Zudem wird die Frage nach dem einen Gott gestellt: Das Volk glaubt dem eigenen Rettergott und wendet sich von Fremdgöttern ab. Schuldhaftes Handeln Israels wird zugleich als Ursache für das Böse genannt; damit fällt Ri ein nüchternes, innerweltliches Urteil, das theologisch nicht überhöht wird. Menschen werden in die Verantwortung genommen für ihr Handeln. Der deuteronomistische Hintergrund des Buches wird deutlich herausgearbeitet. Kurz und prägnant werden die wichtigsten Aspekte dieser Kapitel erklärt.

In einem längeren sich anschließendem Kapitel geht es um die eigentlichen Richtererzählungen von Oniel, Ehud, Debora, Gideon, Abimelech, die kleinen Richter, Jiftach und Simson. Sie werden von Neef als Heldensagen/Rettererzählungen klassifiziert. Insbesondere an Gideon wird deutlich, dass er ein demütiger Diener Gottes ist; sein Kampf ist eigentlich ein Kampf Gottes. Die kleinen Richter werden nach einem festen literarischen Schema präsentiert (Nachfolgenotiz – Name – Genealogie – Ort – Richteramt – Tod – Begräbnis). Im Unterschied zu den großen Richtern fehlen ausführliche Erzählungen. Neben den wichtigsten Aspekten des Inhalts und der Strukturierung der Erzählungen steht in diesem Kapitel die jeweilige theologische Dimension im Zentrum.

Ein weiteres Kapitel widmet sich den Anhängen zum Richterbuch (Ri 17,1-21,25). Untypisch für Ri geht es zunächst um den Kult des Micha, v.a. um einen selbstgerechten menschlichen Umgang mit dem Kult. Hinter dieser Erzählung steckt die Kritik am kultischen Pluralismus in der ausgehenden Richterzeit. Zudem geht es um die Untat der Benjaminiten und Israels Kampf mit Benjamin.

Im letzten größeren Teil des Kommentars werden Aspekte der Auslegungsgeschichte des Richterbuchs unter die Lupe genommen. Diese zeigt Neef besonders an den Figuren Ehud, Debora, Gideon, Abimelech, Jiftach, Simson und Benjamin auf. Zentrale Aspekte der Rezeption dieser Figuren werden in literarischen (jüdische und christliche Literatur), künstlerischen Darstellungen und wissenschaftlichen Publikationen präsentiert. Besonders spannend ist der Abschnitt über die Rezeption der einzigen Richterin, Debora. Dabei geht der Autor auch auf sozialgeschichtliche und feministische Ansätze ein.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Weltpolitik ist die Lektüre des Richterbuches aufschlussreich. Die Zurückhaltung im theologischen Urteilen und unreflektierte theologische Spannungen können die moderne Leserschaft dazu anregen, die Gegenwart zu deuten. Neef trägt mit seinem Kommentar dazu bei, in diese fremde Textwelt besser einzudringen und das Richterbuch auf seinem historischen und literarischen Hintergrund zu verstehen. Dass dieses biblische Buch insgesamt eher spröde und theologisch zurückhaltend ist, zeigt sich auch in der Kommentierung. Fragen, die sich den modernen Leserinnen und Lesern stellen, werden in Ri nicht reflektiert, so dass viele Fragen offenbleiben. Aber genau darin liegt eine große Chance für die persönliche Auseinandersetzung mit dem biblischen Buch.

Bibel heute lesen

Zürich: Theologischer Verlag Zürich. 2023
196 Seiten m. farb. Abb.
19,80 €
ISBN 978-3-290-18545-9

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