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Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe
Helga Schubert wurde 1940 in Berlin geboren, in der DDR als Literatin diskriminiert, und 2020 für eine Geschichte des Vorgängerbuches „Vom Aufstehen“ mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Im neuen Titel erstaunt das aus der Zeit gefallene „Stundenbuch“, das üblicherweise täglich wiederkehrende Texte klösterlicher Gebete und Gesänge enthält. In der Tat: Die titellosen, oft nur wenige Seiten langen Kapitel öffnen intime Räume einer täglichen Routine. Diese besteht hier in keinem verbalisierten Gotteslob, sondern in den Beschwernissen des Alltagslebens eines hochbetagten Paares – geschildert aus der Perspektive der pflegenden, über 80-jährigen Icherzählerin, die weitestgehend mit der Autorin identisch ist. Ein erneuter Ansatz, das Alter und seine Gebrechen literarisch aus der Tabuzone zu rücken?
Schon das vorangestellte Motto aus Matthäus 6,34 „Sorgt nicht für den anderen Morgen, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen…“ konterkariert diese Vermutung. Mit einer tiefen Wertschätzung der Gegenwart beginnt auch das erste Kapitel: „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme“ (7) – und dies nach 58 Jahren des Zusammenseins. Die große Intimität der Schilderungen lässt die Realität im Detail und ohne Beschönigung erkennen, wird nie voyeuristisch, sondern wahrt die Diskretion des liebevollen Blicks. Die Autorin beschreibt die Paarbeziehung trotz zahlreicher biographischer Rückblicke nicht als Verlust des Vergangenen, sondern als dessen Fortsetzung, als eine Phase der Liebe mit ihrer eigenen Würde und Schönheit. Das im umfassenden Sinne bio-graphische Buch beschreibt das Leben mit „Derden“, dem die Erzählerin als Studentin der Psychologie erstmalig als ihrem Uni-Dozenten begegnete. Während sie mit Mitte 20 versuchte, sich aus einer unglücklichen Ehe mit einem notorischen Fremdgänger zu lösen, traf sie ihn zufällig wieder. In ihrer ersten Arbeitsstelle bei einer „Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke“ des Berliner Stadtbezirkes Weißensee war Derden beauftragt, ihre Arbeit zu evaluieren. Er hörte ihr zu, als ihr 3-jähriger Sohn lebensbedrohlich erkrankte, und bot ihr an, von den Gummibärchen, die die Großmutter seiner Kinder aus dem Westen schickte, abzugeben. „Ich glaube“, so resümiert die Erzählerin, „es waren die Gummibärchen, die selbstverständliche Hoffnung aufs Weiterleben meines Kindes, die Ruhe und die Menschenfreundlichkeit Derdens, für die ich bis heute dankbar bin. Die mir Mut machten, mich aus dieser ersten und zerstörerischen Ehe zu lösen.“ (28) Das scheinbar Nebensächliche ist mitunter von nahezu sakramentaler Bedeutung, in einem Tütchen Gummibärchen materialisiert sich die Hoffnung auf Weiterleben. Im Vorgängerwerk erscheint das titelgebende „Aufstehen“ sowohl als schlichte Handlung nach dem morgendlichen Aufwachen wie auch – angedeutet – als österliche Auferstehung. Die prosaische Verdichtung, in der sich Alltagsdetails und mystisches Wissen berühren, beherrscht Helga Schubert mit minimalistischer Präzision; damit berührt sie enorm, weil sie allseits Bekanntem seine Selbstverständlichkeit nimmt, um es als tägliches Geschenk sichtbar zu machen. Die schwierigen Phasen der Beziehung, in denen sich Derden nicht zur Scheidung entschließen konnte, verschweigen die Rückblicke nicht (vgl. 50): Das Durchstehen von Durststrecken, der Wille, aus Selbstachtung schmerzhafte Grenzen zu setzten und schlechte Gewohnheiten aufzubrechen – die Erzählerin stellte Derden damals ein Ultimatum – gehören zur Liebe.
Die ‚Helden‘ des Buches sind die Pflegekräfte, die nicht nur ihren Job machen, sondern zugleich trösten, Rat und Stabilität geben. So wie Pfleger Markus, der ermahnt, der Vergesslichkeit Derdens nicht zu sehr mit belehrenden Fakten zu begegnen, sondern „darauf zu achten, dass sie mit Liebe ausgesprochen werden“ (29). In Momenten der Angst und Hilflosigkeit, in denen sich Verwandte nicht zuständig fühlen, ist es eine Pflegerin, die die Erzählerin festhält und ihrer Präsenz versichert, komme, was wolle. Sie erscheinen gleichsam als ‚Engel‘ im „Stundenbuch der Liebe“, das ein Glaubenszeugnis im besten Sinne ist, wie ein gemeinsames Interview Schuberts mit ihrem Mann Johannes Helm belegt; Gott sei für sie „ein konstruktives Prinzip“ und der christliche Glaube ihre Kraftquelle trotz entgegengesetzter Sozialisation (Chrismon 07.2023, 22).
Im letzten Kapitel, in dem sich die Erzählerin mit dem nahenden Tod ihres geliebten Mannes auseinandersetzt, wird sie hypothetisch: Sie beschreibt, was sie getan hätte, wenn Derden ihr an diesem Morgen nicht geantwortet hätte, weil er entschlafen wäre. Die Aufzählung der konjunktivischen Handlungen endet mit der Gewissheit, dass sie wie in einem schwerelosen Traumzustand alles richtig gemacht hätte – und mit der abschließenden Wiederholung des Matthäus-Satzes, der morgende Tag werde für das Seine sorgen. Das Motto wird so zum Trost über den Tod hinaus, denn auch nach dem Sterben wird es tagen, wird sie ihn lieben und ihre Liebe erweisen.
Die Autorin löst die Liebe sowohl aus ihrem klassischen Ewigkeitsstreben, ihrem Antagonismus zur physischen Endlichkeit als auch aus der körperfixierten Erotik der Moderne. Den Aufruf Erich Fromms, der moderne Mensch solle sich der Liebe als einer Aufgabe stellen und ihre Kunst erlernen, hat Helga Schubert literarisch eingelöst. „[I]ch möchte zeigen“ schreibt Fromm, „daß es in der Liebe zu einem anderen Menschen überhaupt keine Erfüllung ohne die Liebe zum Nächsten, ohne wahre Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin geben kann“ (Vorwort zu „Die Kunst des Liebens“, 1956). In der lakonischen Schlichtheit seiner Sprache verbirgt „Der heutige Tag“ einen literarischen Durchbruch zu der tröstlichen und gleichwohl schwer zu fassenden Weisheit, die Schönheit des Momentes in der Hinwendung zum Flüchtigen und in ihm zum Geliebten als dem „Diamanten“ des Momentes zu erspüren.
München: dtv Verlagsgesellschaft. 2023
266 Seiten
24,00 Euro
ISBN 978-3-423-28319-9