Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten

Die letzte und titelgebende der 29 Geschichten des neuen Buches von Helga Schubert „Vom Aufstehen“ war bereits zu einem Stück Literaturgeschichte geworden, als das gleichlautende Buch im vergangenen Jahr erschien: 40 Jahre nachdem die Schriftstellerin und Psychologin vom DDR-Regime daran gehindert worden war, einer Teilnahme am jährlichen Wettbewerb um den hoch angesehenen Ingeborg-Bachmann-Preis zu folgen, wurde sie als 80-Jährige 2020 erneut nach Klagenfurt eingeladen und ging als Siegerin hervor – mit eben dieser anrührenden, lakonischen Schilderung, die um die Schmerzpunkte ihres Lebens kreist.

Dabei sind die biographischen Auswirkungen des sozialistischen Totalitarismus, die minimalistisch, hoch präzise skizziert werden, gleichsam im äußeren Kreis der Leiderfahrungen angesiedelt, im Kern aber erschüttert eine von Beginn an gestörte Mutterbindung. Erst der Tod der über hundertjährigen Mutter, den die Autorin mit 76 Jahren erlebte, ermöglichte ihr einen literarischen Zugang; ein solches Schreiben empfindet sie wie „eine Brücke ohne Geländer über den Abgrund, über die der Schreibende allein balanciert“ (128).

Konsequent beginnen die in Ich-Form verfassten Stücke am Ort der Wärme und Geborgenheit im Garten ihrer Großmutter („Mein idealer Ort“), der Mutter ihres bereits im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vaters, bei der sie jeden Sommer ihre Ferien verbrachte. Lockere Assoziationen öffnen bruchstückhaft ganz sinnliche Aspekte von Erlebnissen aller Lebensphasen, in denen vor allem Gerüche – von Obst und Lavendel etwa – eine große Rolle spielen („Der Duft meines Lebens“). Immer aber verweist die „lakonische Darbietung der Realien“ (Maike Albath) auf die Komplexität der mit ihnen verbundenen, durch sie sprechenden emotionalen Ebenen und weiterreichenden Hintergründe. Das Aufwachen des Kindes mit den Sprüchen der Mutter („Auf, auf, sprach der Fuchs zum Hasen, hörst Du nicht die Hörner blasen?“, 201), das Aufstehen aus dem wohligen Bett der schon alt gewordenen Frau („Gleich werde ich mich aufrichten, auf meine Bettkante setzen, in die Hausschuhe schlüpfen,[…] das Sauerstoffgerät ausschalten und wegrollen“, 215), das Wachwerden in der Hängematte der Großmutter – unprätentiöses Weiterleben als ein Aufstehen gegen die Resignation, die hier niemals so genannt wird, steht stillschweigend neben vielfachen Bezügen zu Ostern als dem Fest der Auferstehung, auf das sich die Erzählerin etwa in Fastenkuren vorbereitet. Der aus Interviews bekannte christliche Glaube der Autorin, den sie entgegen ihrer Sozialisation in Familie und Gesellschaft entwickelte, entzieht sich weitgehend deskriptiven Passagen, tritt aber in Liedtexten und Gebetsfetzen entgegen, wie sie auch die atheistische Mutter aus ästhetischen Gründen integrierte. Eine stille, durch deutliche Pausenelemente vermittelte Zuversicht mitten in heftigster Demütigung prägt die Haltung aller Miniaturen, in denen das Trauma fortdauernder Abwertung der Liebesbeweise des Mädchens – wie beispielsweise die Ablehnung einer selbstgemachten Kette durch die Mutter – immer wieder zur Sprache kommt. In „Eine Wahlverwandtschaft“ (131ff) bildet der Text die verzerrten Rollenzuweisungen der Mutter sprachlich ab, etwa indem sich die Ich-Erzählerin selbst in die dritte Person setzt, ihr Mann, ihr Kind und ihre Enkelkinder jeweils in der von der Mutter projizierten Rolle erscheinen; das irritiert beim Lesen und lässt die erlebte Irritation wie in einer Familienaufstellung unmittelbar mitempfinden: „Ja, ihre Tochter: Sie war meiner Mutter fremd geblieben. […] Meine Mutter sagte versehentlich immer öfter Mutti zu ihrer Tochter, denn so hatte sie ihre Schwiegermutter immer genannt.“

Dem Deutschlandfunk gestand die Autorin, sich zu Lebzeiten nicht mit der Mutter versöhnt zu haben – eine intellektuelle, immer beschäftigte Frau, in der Krieg, Flucht und Verlust eine seelische Störung ihrer Bindungsfähigkeit und eine erst mit den Urenkeln auftauende Kälte hinterließen. Nach ihrem Tod aber erkennt die Erzählerin, dass die stets über ihre Verhältnisse lebende Mutter ihr doch einen Schatz vererbt hat: Dieser besteht nicht nur in einer Fülle von Büchern und Dokumenten, sondern einer ex negativo provozierten ständigen Wachsamkeit und Bewusstseinsschärfe, die der Mangel an Geborgenheit positiv verwandelt mit sich brachte: Vielleicht half das Leben mit dieser Ambivalenz, sich gegen die vielfältigen Korrumpierungsversuche des SED-Staates zu „imprägnieren“. In ihrer Stasi-Akte las sie 1990, dass es unmöglich gewesen sei, einen Inoffiziellen Mitarbeiter in ihrem Umfeld zu installieren, da alle ihr nahekommenden Personen selbst unter Beobachtung (d.h. unter Verdacht oppositioneller Bestrebungen) gestanden hätten – nach dem Ende des repressiven Systems eine Adelung ihrer sorgfältig ausgewählten Kontakte! Die berühmte, staatsnahe Christa Wolf vermittelte Helga Schubert in den 1970er Jahren ein Haus in unmittelbarer Nachbarschaft, konnte die in ihren menschlichen und religiösen Bindungen fest verwurzelte Literatin, die bereit war, einen öffentlichen Bedeutungsverlust hinzunehmen, jedoch nicht zur politischen Anpassung bewegen.

Mit sozialpsychologischem Scharfsinn wandte sich Helga Schubert mittels des eigentlich amerikanischen Genres der „Faction“ früh den Themen Denunziation (in „Judasfrauen“, 1990) und politisch motivierten Morden durch Euthanasie („Die Welt da Drinnen“, 2003) zu. Sie kam zu dem Schluss, dass die Diktatur Menschen ihres Schutzes beraubt, zu Tätern zu werden. Schubert war Sprecherin des Runden Tisches und begrüßte 1990 die Wiedervereinigung durch Beitritt zur Bundesrepublik – auch die Zeithistorie ist Teil des unpathetischen „Lebens in Geschichten“ einer tief überzeugten Demokratin. Die Autorin hat sich entschlossen, schreibend „aus der schützenden unverbindlichen Verschlossenheit herauszutreten“ und sich der Erkenntnis zuzuwenden, dass „nichts unwichtig [ist], wenn ich es nur genau genug betrachte“ (129): „Aber dazu gehören das Hinsehen und das Erschrecken, dass in der Welt der Menschen nichts einfach gut oder böse ist, dass jeder, auch die, die schreibt, gut und böse ist, erschöpft und wach, verzeihend und nachtragend, hasserfüllt und liebend, verletzend und verwundbar.“

München: dtv Verlagsgesellschaft. 142021
222 Seiten
22,00 Euro
ISBN 978-3-423-28278-9

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