Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Holger Brülls: Reise ins Licht

Wer „Glasmalerei“ mit Sachsen-Anhalt in Verbindung bringt, wird sich vermutlich an die strahlenden Fensterbahnen der mittelalterlichen Dome von Halberstadt, Havelberg, Naumburg oder Stendal erinnern. Die meisten Kirchenfenster stammen indes aus dem 19. Jahrhundert. Nun legt Holger Brülls, Konservator und ausgewiesener Fachmann für Glaskunst, ein Buch zur „Glasmalerei in Sachsen-Anhalt vom Expressionismus bis zur Gegenwart“ vor. Das umfangreiche Werk versteht sich als „inventarisatorisches Überblickswerk“ und als „denkmalpflegerischer Werkbericht“ (15) – und wendet sich über das Fachpublikum hinaus an Menschen, die an moderner Glasmalerei interessiert sind.

Die fünf Hauptkapitel sind gleich aufgebaut: Nach einem Überblick zu den jeweiligen kunsthistorischen Hintergründen und glasmalerischen Problemstellungen sowie Informationen zu den Glaskünstlerinnen und -künstlern werden unter dem Titel „Orte – Räume – Werke“ ausgewählte Werke präsentiert – jeweils mit einer kleinen schwarz-weißen Aufnahme des Gebäudes und einem knappen Text zu den in brillanten Fotos dokumentierten Glaskunstwerken.

Das Kapitel „Expressionismus, Konstruktivismus, Art déco“ (20-131) behandelt die Zwischenkriegszeit, in der die Glasmalerei einen „unvergleichlichen Aufschwung“ (23) erlebte und sich zwischen den Polen Ornamental- und figurativem Stil (66) bewegte. Ein eigenes Kapitel widmet der Verfasser unter der Überschrift „Glasmalerei als schöpferische Denkmalpflege“ Charles Crodel (1894-1973), der bei aller Eigenständigkeit von Figur und Farbe die Glasmalerei stets als eine architekturbezogene Kunst begriff und nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl im Westen wie im Osten Deutschlands (etwa in den Domen von Merseburg, Halberstadt und Erfurt) bedeutende Fenster schuf (132-177).

In zwei Kapiteln unternimmt Brülls eine Bestandsaufnahme und Würdigung der künstlerisch bedeutsamen Glaskunst in Mitteldeutschland. Die „Glasmalerei der frühen Nachkriegsmoderne 1949 bis 1960“ (178-241) charakterisiert er in stilistischer Hinsicht als „gesamtdeutsch“ (181), wofür Künstler wie Charles Crodel und Christof Grüger (1926-2014) stehen. Ökonomische und ideologische Restriktionen hatten zur Folge, dass die christlichen Kirchen zu einem kulturellen Freiraum wurden, in dem sich bemerkenswerte Glasmalerei entfalten konnte; der Verfasser bezeichnet sie als „Moderne im Schatten“ (196). Bei der Darstellung der „Glasmalerei und Glasgestaltung in der DDR 1960 bis 1989“ (242-303) stellt er die Betonglastechnik heraus. Als bedeutsam erwies sich der 1975 an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle gegründete Fachbereich „Künstlerische Glasgestaltung“, aus dem wichtige Glaskünstler hervorgingen, die nach dem Ende der DDR zunächst im Osten, dann in ganz Deutschland wichtige Aufträge realisieren konnten.

Besonderes Interesse verdient das Kapitel „Glasmalerei der Gegenwart 1989 bis heute“ (304-435): Nach der Sicherung vom Verfall bedrohter denkmalgeschützter Bauten wurde die Neugestaltung der Fenster der romanischen Klosterkirche Jerichow (2005-2009) durch den renommierten Jochem Poensgen (geb. 1931) zum Startschuss für einen außerordentlichen Aufschwung zeitgenössischer Glaskunst in Sachsen-Anhalt. So haben die „Altmeister“ Hubert Spierling (1925-2018) und Johannes Schreiter (geb. 1930) großartige Glasarbeiten geschaffen. Viele Fenster wurden von den Künstlerinnen und Künstlern realisiert, die aus der „Halleschen Schule der neuen Glasmalerei“ (311) hervorgegangen sind wie etwa Christine Triebsch (geb. 1955), Christiane Schwarze-Kalkoff (geb. 1955), Günter Grohs (geb. 1958) oder Thomas Kuzio (geb. 1959). Inzwischen ist eine Reihe jüngerer Glaskünstler dazugekommen. In die Feuilletons geriet die Glasmalerei jedoch nicht durch diese ausgewiesenen Könner, sondern durch die „Künstlerfenster“ prominenter Quereinsteiger wie Tony Cragg, Markus Lüpertz, Neo Rauch, David Schnell, Michael Triegel oder Max Uhlig.

Genau hier wird deutlich, dass die Glasmalerei keine (transportable) „autonome“, sondern eine (in die Fensteröffnungen verbaute) architekturgebundene Kunst ist; ihre Qualität besteht darin, wie sie das Licht im Innenraum eines vorgegebenen sakralen (oder profanen) Gebäudes moduliert. Es geht nicht darum, historische Räume durch zeitgenössische Kunst attraktiver zu machen, sondern diese, so Brülls, „atmosphärisch und funktional schlüssig zu gestalten, damit sie ihre liturgische Funktion und ihren historischen Charakter gleichermaßen bewahren können“ (315). Dabei zeige die „klassische Technik mit Echtantikglas und traditioneller Verbleiung … an denkmalgeschützten Bauten die beste Wirkung“ (316). Ein Beispiel, das diesen Kriterien gerecht wird, sind die Fenster von Lüpertz in der Dorfkirche Gütz bei Halle – die zudem, was in der gegenwärtigen Glaskunst die Ausnahme ist, figurativ gestaltet sind.

Dieses ausführliche Werk möchte auch ein kulturhistorischer Führer zu signifikanten Werken der Glaskunst der letzten hundert Jahre sein – und bietet dazu im Anhang als erste Orientierung eine Übersichtskarte samt Standortliste (450-454) an. Doch dafür ist das Buch zu umfangreich und zu schwergewichtig geraten, wäre aber sicherlich die allerbeste Grundlage für einen knapperen Reiseführer. Größten Wert hat der Herausgeber, das „Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt“, auf eine vorzügliche Bebilderung gelegt und viele Neuaufnahmen anfertigen lassen, so dass ein sehr schönes Buch entstanden ist: Die klugen Texte lassen sich mit Gewinn lesen und die Fotos der abgebildeten Glasmalerei erfreuen das Auge; es motiviert, zu einer „Reise ins Licht“ aufzubrechen.

Glasmalerei in Sachsen-Anhalt vom Expressionismus bis zur Gegenwart
Halle: Verlag Beier & Beran. 2022
460 Seiten m. farb. Abb.
49,00 €
ISBN 978-3-948618-49-0

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