Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Holger Gzella: Aramäisch. Weltsprache des Altertums

In Lehre und Forschung theologischer Fakultäten in Deutschland spielt die aramäische Sprache eine nur untergeordnete Rolle. Man weiß zwar, dass einige wenige Passagen der jüdischen Bibel in Aramäisch verfasst sind und dies die Sprache Jesu und der Targume gewesen ist. Ansonsten bleibt das Aramäische Spezialisten vorbehalten. Es ist daher umso verdienstvoller, dass der katholische Theologe, Alttestamentler und Semitist Holger Gzella neben seinen zahlreichen Spezialstudien zur aramäischen Sprachwelt nun eine umfassende kulturgeschichtlich orientierte Gesamtdarstellung der aramäischen Sprachgeschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart vorgelegt hat. Er knüpft damit an seine früheren in Englisch und Niederländisch publizierten Bücher über die Geschichte des Aramäischen an und fokussiert auf „die Schrift- und Schreibertraditionen, ihre weiträumige Vernetzung und die bislang noch nirgends zusammenhängend analysierten historischen Grundlagen des aramäischen Schrifttums bis zum Ausgang der Antike“ (14).

Charakteristisch für die aramäische Sprachwelt ist, dass das Aramäische keine einheitliche, sprachlich klar konturierte Größe wie z. B. die griechische Koiné bildet, sondern vergleichbar dem Romanischen nur eine linguistische Abstraktion darstellt (22). Verschiedene Völker, Institutionen und Religionen bedienten sich der aramäischen Sprachen mündlich wie schriftlich. Die Genealogie des Aramäischen setzt mit dem Auftreten der ersten Schriftquellen im 9. Jh. v. Chr. in Zentral- und Ostsyrien ein, einem Gebiet, das bereits am Ende des 2. Jt.s v. Chr. in mesopotamischen Tontafeln mit einer „Aramäer“ genannten Ethnie assoziiert wurde. Als Kerngebiet des Aramäischen ist es Teil wechselnder Herrschaften, u. a. des assyrischen, des babylonischen und des persischen Reiches. Spätestens ab der Mitte des 1. Jt.s v. Chr. gehört neben Syrien und Mesopotamien auch Palästina zum Zentrum der aramäischen Sprachwelt, in der aramäische Mundarten von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen wurde. Diese Alltagsdialekte bildeten durchgehend die Grundlage für überregionale Verwaltungs- und Literaturtraditionen (36). Im Zuge der Verstädterung erwuchsen den fluiden Regionaldialekten die Schriftsprachen kleiner Kanzleien, die als Bindeglied zwischen den lokalen Sprachkulturen und den größeren imperialen Institutionen firmierten (382f.). Insbesondere für die Textualisierung der Religionen stellte die Schriftkultur der Amtsstuben geeignete Ausdrucksmittel zur Verfügung. „Aus dem Vorbild des gewissenhaften Notars wurde der gelehrte Exeget“ (383).

Ausführungen des Verfassers zur Bedeutung der aramäischen Schriftgelehrsamkeit in der biblischen Überlieferung sind für die Fachexegese ein Gewinn, da dieser nicht nur eine literarkritische Sicht, sondern auch eine historisch-linguistische Perspektive auf der Grundlage der verschiedenen aramäischen Sprachmorphologien einnimmt (189). Dies führt Gzella z. B. hinsichtlich des Doppelbuchs Esra-Nehemia zu der Einschätzung, dass sich hier „zweifelsohne Gelehrte verewigt [haben], die mit den Gepflogenheiten des administrativen wie des kultischen Milieus gleichermaßen bekannt waren und in ihrer eigenen Überlieferung Erinnerungen an das umfassende achämenidische Archivwesen mit seinen Termini, Dokumenttypen und Verwaltungsvorgängen bewahrten“ (197). Das Schreiberideal prägt das apokalyptische Danielbuch, das durch einen Wechsel von aramäischer und hebräischer Sprache charakterisiert ist. Als Beamter an einem fremdländischen Hof repräsentiert Daniel wie Esra den Schriftkundigen, allerdings nicht als Ausleger des Gesetzes zur Neubildung der Kultusgemeinschaft nach dem babylonischen Exil, sondern, wie Sprachanalysen zeigen, als Vertreter einer individuell geprägten Diaspora-Frömmigkeit, der die Verehrung des wahren Gottes in einem heidnischen Umfeld propagiert (206-208). Seine das bisherige Schreiberideal überschreitende Kompetenz, verborgene Botschaften zu deuten, verbindet sich mit einer Herrschaftskritik, die weltliche Macht gegenüber göttlicher radikal relativiert.

Die nichtbiblischen aramäischen Texte aus Qumran dokumentieren mit dem Hasmonäischen einen Sprachtypus, der sich nach dem Makkabäeraufstand im von hellenistischer Fremdherrschaft wieder unabhängigen jüdischen Staat in Judäa ausbildete und auf der reichsaramäischen Schrifttradition gründete. Sie bilden einen Querschnitt des religiösen Schrifttums in Judäa und anderen Teilen Palästinas und greifen inhaltlich über die hebräischen Texte hinaus, indem sie nicht Mose und die Propheten thematisieren, sondern sich der vormosaischen Urzeit, Engeln und Dämonen sowie der Naturkunde und Mantik zuwenden (219-223). Die Schriften des Neuen Testaments sind zwar auf Griechisch verfasst, zeigen aber ebenfalls eine Verwurzelung im Denken des palästinischen Judentums bis hin zu thematischen und sprachlichen Bezügen zu den Qumran-Schriften (236). In etlichen Jesusworten finden sich typisch aramäische Satzstrukturen und Ausdrücke. Die Motive vom himmlischen Buch, in dem die Namen der Jünger eingetragen sind (Lk 10,20), und die Gleichnisse, die in der Welt der Ökonomie und Verwaltung situiert sind, passen zu dem administrativen Schreiberideal des reichsaramäischen Erbes.

Der seleukidische Niedergang in Syrien-Palästina und Mesopotamien in nachbiblischer Zeit setzte Zentrifugalkräfte frei, die eine Reihe lokaler Sprachtraditionen zu normierten Hochsprachen mit eigenen Schrifttraditionen ausbildeten, darunter das Palmyrenische, Edessenische und Ostmesopotamische (141-282). Die hochbedeutende christlich-syrische Literatursprache kann unmittelbar auf die edessenische Verwaltungssprache zurückgeführt werden (272). Eine bedeutende Stellung kommt schließlich dem Nabatäischen zu, das im Nabatäerreich die offizielle Verwaltungssprache war und maßgeblich die Entwicklung der arabischen Schriftsprache aus mündlichen arabischen Lokaldialekten bestimmt hat. Linguistisch-sprachgenealogische Studien geben Einblick in das in dieser Zeit eng verwobene Mit- und Nebeneinander von Juden, Christen und Muslimen.

In der Summe ist Gzella eine beeindruckende Sprach- und Kulturgeschichte des Aramäischen gelungen. Seine These, dass die dauerhafte Akzeptanz eines administrativen Schreibertums und seiner Institutionen wesentlich zur Entwicklung einer aus Regionaldialekten erwachsenen Verkehrs- und Kultursprache geführt hat, darf als überzeugender Forschungsbeitrag gelten. Aus Sicht der Religionsgeschichte und Bibelexegese wird man insbesondere zu beherzigen haben, dass literarkritischer Quellenanalyse und Linguistik die gleiche Aufmerksamkeit gebührt.

Eine Kulturgeschichte von den neuassyrischen Königen bis zur Entstehung des Islams
München: C. H. Beck Verlag. 2023
480 Seiten m. Karten u. Abb.
36,00 €
ISBN 978-3-406-79348-6

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