Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Ingolf U. Dalferth: Die Krise der öffentlichen Vernunft

„Auf der Flucht vor der öffentlichen Auseinandersetzung erreicht dieser oder jener die Freistatt einer privaten Tugendhaftigkeit. Aber er muß seine Augen und seinen Mund verschließen vor dem Unrecht um ihn herum. Nur auf Kosten eines Selbstbetruges kann er sich vor der Befleckung durch verantwortliches Handeln reinerhalten. Bei allem, was er tut, wird ihn das, was er unterläßt, nicht zur Ruhe kommen lassen. Er wird entweder an dieser Unruhe zugrunde gehen oder zum heuchlerischsten Pharisäer werden.“ So schrieb Bonhoeffer in seiner „berühmten Rechenschaft an der Wende zum Jahre 1943“ – Dokument einer unerbittlich selbstkritischen Gewissenserforschung „nach 10 Jahren“, also seit Hitlers Machtergreifung. „Wer hält stand?“ und „Sind wir noch brauchbar?“, lautet die Gretchenfrage. (Widerstand und Ergebung, DBW 8 , Gütersloh 1998, 19-39, hier 22).

Auf dieser Linie gewinnt das vorliegende Buch seine inspirative Kraft und seine brisante Aktualität; Ingolf U. Dalferth erweist sich erneut als einer der klügsten Köpfe heutiger systematischer Theologie (und Religionsphilosophie). Das gilt schon für den Mut und die Konsequenz, eines der spirituell und theologisch brennendsten Probleme der Gegenwart anzugehen – den vermeintlich selbstverständlichen Konsens nämlich, alles müsse prinzipiell auch ohne Gott zu regeln sein, jedenfalls im öffentlichen Leben. Damit ist ja der vorherrschende Eindruck verbunden, die Sache mit Gott komme eigentlich immer zu spät und stünde beliebig zur Disposition oder Spekulation. Wer es wagt, ausdrücklich mit Gott zu rechnen, steht automatisch unter Rechtfertigungszwang, als sei Gott ein Thema und Gegenstand wie jeder andere auch. Selbst wenn es ihn gibt und das Reden von und gar zu ihm sinnvoll ist, gilt es gesellschaftlich doch als sekundär und bestenfalls als privater Luxus (oder Knaxus). Aber von Gott als Gott ist ja sinnvoll überhaupt erst dann gesprochen, wenn „er“ allem zuvor ist, dieses gründend und ermöglichend, und zwar privat wie öffentlich. Er „steht für die schöpferische Transzendenz, ohne die es keine Immanenz gibt … Gott ist epistemisch nicht erweisbar, aber existenziell unvermeidbar“ (257). Gewiss ist die Einsicht (seit) der Aufklärung richtig, „dass Gott kein Gegenstand empirischer oder historischer Wissenschaften und kein Lückenbüßer wissenschaftlicher Erklärungen ist“. Aber das heißt gerade nicht, dass Gott nirgends, sondern gerade umgekehrt, dass Gott überall thematisiert werden kann“ und muss (130). Wie Joseph Ratzinger vor Jahren mit Berufung auf Pascal für eine allgeeine Grundhaltung warb, „als ob es Gott gäbe“, so auch Dalferth in schöpferischem Kontrast zu Bonhoeffers: „etsi deus non daretur“ (130). Genau diese „Lücke“ namens „Gott“ gilt es offenzuhalten – als Kirche für Gesellschaft und Staat, als Theologie im Kontext der Wissenschaften (und, so sei hinzugefügt, als Religionsunterricht in der Schule). Nebenbei ergänzt: Dass solches Offenhalten das absolute Gegenteil von Lückenbüßerei ist, könnte schon daran deutlich werden, dass „lücke“ und „gelücke=glück“ dieselbe Sprachwurzel haben. Bloße „Gottesabstinenz vom öffentlichen Raum“ (157) oder schlichter Rückzug in den privaten Raum gar nur der Innerlichkeit sind nicht nur intellektuell unbefriedigend, sondern politisch und sozial gefährlich: Denn ohne einen prägenden Bezug zu einem „ultimativen Dritten“ namens „großer Transzendenz“ bleibt man allem anderen etwas schuldig, und das mit höchst problematischen Folgen, z.B. in der gegenwärtigen Demokratiekrise.

Das äußerst gehaltvolle Buch, dessen Durcharbeitung ganze Reihen von Lampen aufleuchten lässt, ist glasklar geschrieben und gegliedert. Dass eingangs von der globalen Krise der Demokratie die Rede ist, ruft systematisierend ins Bewusstsein, was Alltag und Medien täglich mitteilen: eine strukturelle Vermeidung der Letztfragen. Der zweite Abschnitt „Krise der Öffentlichkeit“ stellt den einschneidenden Wandel des neuzeitlichen Paradigmas dar: War die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit seit der Aufklärung eine emanzipatorische Leistung mit befreiender Kraft zu mehr Verantwortung gerade für das Gemeinwohl, so gibt es postmodern nur „eine amorphe Vielfalt von Öffentlichkeiten (Netzwerke) oder den Abbau einer allen gemeinsamen Öffentlichkeit zugunsten von Milieublasen“ (95). Politikverdrossenheit, Ohnmachts- und Frustrationshaltung und nicht zuletzt Unsicherheit darüber, welche Nachricht denn nicht gefakt sei, sind die Folge; gesucht wird neu, was die plurale Welt und das einzelne Bewusstsein im Innersten zusammenhält. Selbst wenn man nichts mehr „coram deo“ bedenken will, die offene Frage ist da und muss ausgearbeitet bleiben.

„Die Krise der Vernunft“ und „Orientierende Urteilskraft“ – dritter und vierter Abschnitt – lassen sich (um wenigstens den zentralen Leitgedanken aus der Fülle der Aspekte hervorzuheben) als spannende Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas lesen. Dessen großes Spätwerk „Glauben und Wissen“ ist nach Dalferth „durchgehend an nachkantischen Problemkonstellationen orientiert“ (319). Die Gottesfrage wird demnach zunehmend als negativ entschieden und ausgemustert: Gott wird durch Religion ersetzt und Glaube durch religiöse Gesinnung. Zwar wolle Habermas das Erbe des Gottdenkens nachmetaphysisch beerben und ins Säkulare übersetzen, aber er ende, wie er selbst im Schlusssatz markiert, in einem Dilemma: „Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jedes Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern.“ In der Tat, unterstreicht Dalferth, und nennt den Grund: Indem Habermas nämlich von der Leitdifferenz „Glaube und Wissen“ ausgeht, setze er zu kurz an. Denn der Gegensatz zum Glauben ist nicht Wissen, sondern Unglaube. Habermas aber verstehe „Glauben durchgehend als Schwachform des Wissens oder als Performanzgestalt von Erfahrung“ (174); Gott ist ihm „keine reale Größe, sondern ein Konstrukt der Gläubigen“ (177). Ob und wie diese Kritik an Habermas zutrifft, wäre eigens zu diskutieren, aber klar wird die theologische Pointe des ganzen Buches: „Nicht im Denken, sondern im Leben entscheidet sich die Gottesfrage“ (167), und zwar in allen Wirklichkeitsbereichen. Darin ist Gott „der ultimative Dritte“: „existentiell unvermeidlich“, weil „schöpferische Transzendenz“ von und in allem (257).

Dieses starke Gottes- und Schöpfungsverständnis entfaltet überzeugend der fünfte Abschnitt „Das Dritte“. Plastisch stellt Dalferth ein Beispiel voran: „Als Bürger ist jemand mit einem anderen als Bürger gleich, wenn beide in Hinsicht auf das Gesetz betrachtet werden.“ (227) Ohne den Bezug auf das orientierende Dritte, das Gesetz, gäbe es die Gleichheit der Bürgerschaft nicht. Welt und Mensch im Ganzen und Einzelnen als Schöpfung verstehen bedeutet, sich und andere und alles als verdankt und geschenkt zu realisieren. Das aber setzt notwendig die Realpräsenz einer „schöpferischen Transzendenz, ohne die es keine Immanenz gibt“, voraus (257). „Gott ist nicht nur ein Dritter unter oder neben anderen, sondern der ultimative Dritte, ohne den es keine anderen Dritten gäbe.“ (258) Machen wir also ernst mit der demokratischen Trias von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, dann ist solcher Schöpferbezug schon mitgedacht, nein mitvollzogen. Nicht nur genealogisch hängen demokratische Öffentlichkeit und Gottesglaube zusammen, es ist auch in Wirklichkeit so. Wer nicht an Gott als Ermöglicher alles Möglichen und Wirklichen glaubt, muss anerkennen, dass wir „nicht verlässlich zu Hause sind in der gedeuteten Welt“ (Rilke). „Gott ist deshalb nicht erst dort präsent, wo man das bemerkt und anerkennt, sondern man kann es nur bemerken und anerkennen, weil Gott vorgängig präsent ist.“ (281)

Ersichtlich stecken in diesen Gedanken alle Grundprobleme um Gottesbeweise, natürliche Theologie und Schöpfungstheologie, die es weiter zu erwägen gilt – mit manchen Rückfragen an Dalferths Argumentation. Vor allem wäre eine theologische Reflexion auch darauf wünschenswert, warum die Sache mit Gott derart zur internen Kirchenangelegenheit verkümmert ist und in der Öffentlichkeit eher als Stichwort mangelnder Fortschrittlichkeit gehandelt wird. Aber zum einen überzeugen seine intellektuelle Redlichkeit und argumentative Kraft, zum anderen der Mut und die Leidenschaft, theologisch Verantwortung zu übernehmen für gesellschaftliche Grundfragen des Lebens und Überlebens. Zu gefährlich ist mit der Öko- die Demokratiekrise weltweit, als dass man daraufhin nicht den Mehrwert christlichen Glaubens auszulegen hätte.

Eine höchst erfreuliche Position angesichts des „spirituellen“ Mainstreams auch in den Kirchen, wo man sich des Öfteren mit persönlichen Glaubenserfahrungen und innerlichen Gottesbegegnungen zufriedengeben will, als wäre Gott ein Kirchenthema oder eine Peinlichkeit, über die man öffentlich nicht mehr sprechen dürfte. „Als ob es Gott gäbe“ – mindestens das sollte der Normalfall werden. Und deshalb ist (guter) Religionsunterricht so wichtig.

Über Demokratie, Urteilskraft und Gott
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. 2022
333 Seiten
25,00 €
ISBN 978-3-374-07056-5

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