Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jan-Heiner Tück: Crux. Über die Anstößigkeit des Kreuzes

Das Kreuz bzw. die Kreuzigung Jesu entziehen sich der theologischen Systematik. Diese pointierte Aussage bestimmt die Struktur des Buches und das Vorgehen des Autors: In 24 Versuchen beleuchtet Jan-Heiner Tück die unterschiedliche Bedeutung des Kreuzes sowie mit der Kreuzigung verbundene Bewertungen und Unterstellungen in verschiedenen geschichtlichen Situationen. Die einzelnen Beiträge bilden ein anregendes Kaleidoskop. Sie provozieren die geistige Auseinandersetzung und die geistliche Vertiefung.

Die anschauliche, zum Teil illustrierte, komplexe Darstellung ist historisch orientiert. Sie berücksichtigt in den einzelnen übersichtlichen Kapiteln von der Antike bis zur Gegenwart zunächst mythologische und philosophische Kontexte als Voraussetzung zum Verständnis von „Crux“: Odysseus am Mast als Modell des Gekreuzigten, das Opfer der Alkestis, die Figur des gekreuzigten Gerechten in Platons Politeia, aber auch die alttestamentliche Erzählung von der Opferung Isaaks.

Als Instrument des Gottesmordes im Kontext der Enterbung Israels wird das Kreuz von christlichen Repräsentanten der frühen Kirchengeschichte pervertiert. Mit Nietzsches Polemik gegen das Mitleid im Namen des Lebens sind das Kreuz und der Gekreuzigte zunächst abgewertet, aber gleichzeitig können sie neu verstanden werden: Es zeigen sich die Berechtigung von Nietzsches Kritik im Kontext seiner Lebensmetaphysik und Gesprächsmöglichkeiten mit einem neuen, anderen Blick auf den Gekreuzigten.

Auch mithilfe von René Girards mimetischer Perspektive werden das Kreuz und die Kreuzigung erläutert: Alle gegen einen – einer für alle: Unter dieser aktuellen soziologischen und psychologischen Perspektive ergeben sich erstaunlich einfache, einleuchtende Verständnismöglichkeiten.

Von Navid Kermani wird das Kreuz in einen spezifischen, provozierenden, für das Gespräch besonders ergiebigen Blick genommen. Im Kapitel „Gotteslästerung und Idolatrie?“ wird Tück der Auffassung dieses geschätzten, dialogisch orientierten Islamgelehrten einfühlsam und differenziert gerecht. Er bringt dabei außerdem den Kontext von Kermanis Position und ihre Grenzen unmissverständlich zum Ausdruck. So tun sich dem interessierten, kritischen Leser immer neue theologische und existentielle Zugänge auf. Hier seien noch eigens die meditierenden Ausführungen Tücks bei der Analyse von Paul Celans Gedicht „Tenebrae“ genannt. Die klar zum Ausdruck kommende Nähe von Celans Lyrik (die Tück besonders gut kennt) zur Situation unschuldig gequälter Menschen, auch des leidenden Gekreuzigten, geht dem Leser unter die Haut.

Das Kreuz gibt immer wieder Anlass zu öffentlichen Kontroversen, zu denen Tück klar und abgewogen Stellung nimmt. Als „symbolische Selbstamputation“ stellt er das Verhalten der beiden Bischöfe Marx und Bedford-Strohm in Frage, die bei einem offiziellen Besuch auf dem Tempelberg ihr Brustpektorale aus Rücksicht auf die dort geltenden Verhaltensvorschriften abnahmen. Diese Kritik und die Frage nach der Bedeutung des öffentlichen Bekenntnisses zweier hochrangiger religiöser Repräsentanten gelten erst recht angesichts der Wirkung, die ein solches Verhalten auf die Situation und die Gefühle verfolgter Christen im Nahen Osten und auch in anderen Regionen hat.

Die Präsenz des Kreuzes in öffentlichen Gebäuden, zum Beispiel der Wiener Universität, ruft kontroverse Diskussionen und Reaktionen hervor. Deshalb ist es Tück in diesem Kontext wichtig, darauf aufmerksam zu machen und zu bedenken, welche Wirkung ein abgehängtes Hörsaalkreuz hinterlässt: Was fehlt, wenn das Kreuz fehlt? Diese kritische Frage klingt lange nach. Sie kann einmal mehr besonderes Interesse an der aktuellen sozialen und politischen Dimension von „Crux“ wecken.

Der Kreuzestod und die Auferstehung Jesu gehören im christlichen Glaubensbekenntnis von Anfang an eng zusammen. Darum ist es plausibel, dass das Buch „Crux“ mit Überlegungen zu der Frage endet, wie zeitgenössischen Lesern ein Zugang zum Glauben an die Auferstehung möglich ist, bei dem Golgotha nicht vergessen wird. Mit Bezug auf Täter und auf ihre Opfer ist der Autor überzeugt: Nur wenn der Name Gottes über uns genannt wird, können wir darauf hoffen, nicht vergessen zu werden. Gegen eine Harmonisierungstheologie, die nicht angemessen zwischen den Tätern und ihren Opfern unterscheidet, steht die Memoria Dei als Trost: Gottes Gericht kann den Opfern wie den Tätern gerecht werden. Er bleibt allen seinen Geschöpfen treu.

Jan-Heiner Tücks anschauliches, kenntnisreiches, flüssig lesbares Buch erweitert den Horizont. Es stellt die Anstößigkeit des Kreuzes in Form einprägsamer historischer und aktueller Momentaufnahmen überzeugend dar. Die durchgängige Teilnehmerperspektive des Autors bewegt den Leser besonders: Das Kreuz steht für die Qualen der Leidenden und für die Solidarität Gottes mit den Gequälten. Das Buch „Crux“ lädt deshalb neben der intellektuellen Auseinandersetzung zur mitfühlenden geistlichen Betrachtung und zum Gebet ein.

Freiburg: Herder Verlag. 2023
375 Seiten m. Abb.
28,00 €
ISBN 978-3-451-39197-2

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