Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jan-Heiner Tück / Tobias Mayer (Hg.): Das vermisste Antlitz

Wenn ein Veranstalter heute Schriftsteller zu Vorlesungen über Literatur und Religion einlädt, erntet er ein Meinungsspektrum, das sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt. Die beiden Herausgeber der vorliegenden Sammlung von Vorträgen, die 2019 und 2020 an der Universität Wien gehalten wurden, entnehmen ihren Titel dem gleichnamigen Beitrag von Uwe Kolb. Dieser 1957 in Ost-Berlin geborene Lyriker stellt seine Fragen an das zeitgenössische deutschsprachige Gedicht unter den Titel „Das vermisste Antlitz" und beklagt darin die „artifizielle Sprachakrobatik" vieler heutiger Gedichte, vermisst die Ansprache an ein persönliches Gegenüber und die Thematisierung grundlegender anthropologischer Fragen. Dabei weist er beiläufig auf eigene Erfahrungen der Marginalisierung hin, als er eine Sammlung mit religiös grundierten Psalmen-Gedichten veröffentlicht hatte.

Die kärntner-slowenische Schriftstellerin Maja Haderlapp geht ihrer Rolle als Autorin nach, die sich hinter den Texten oft nur schwer greifen lässt. Bei ihr, die in zwei Kulturen aufgewachsen ist, spielen Motive wie Heimat, Zugehörigkeit und Entfremdung, Erinnerung und Vergessen, Weggehen und Zurückkommen eine zentrale Rolle. Sie verbinden sich mit der Suche nach der „richtigen" Sprache für eine Autorin, die der slowenischen Minderheit in Kärnten angehört und die politischen und kulturellen Konflikte zwischen dem Deutschen und Slowenischen durchlitten hat.

Barbara Honigmann, geb. 1949 in Ost-Berlin, gehört zur zweiten Generation der deutsch-jüdischen Literatur nach der Shoa. Ihre Eltern hatten im Exil überlebt und kehrten nach Deutschland zurück, und zwar bewusst in die DDR, weil ihnen dieser Staat als das bessere „antifaschistische" Deutschland erschien. Ihren Essay widmet sie den Schriftstellern Franz Kafka und Marcel Proust, die beide ebenfalls jüdischer Herkunft, ungefähr zur gleichen Zeit, unter ähnlichen Lebensbedingungen ein Lebenswerk von Weltrang schufen. Was es heißt, Schriftsteller und Jude im Spannungsfeld von Identität und Assimilation zu sein, untersucht sie in ihrer Abhandlung über diese beiden Außenseiter des etablierten Literaturbetriebs und sieht darin auch ihre eigene Existenz als Schriftstellerin gespiegelt.

Patrick Roth, geb. 1953, lässt den Leser teilhaben am Entstehungsprozess seines Romans „Sunrise – Das Buch Joseph". Seine Inspirationsquellen sind Träume und Archetypen, wie sie C. G. Jung in seiner Tiefenpsychologie herausgearbeitet hat.

Der katholische Schriftsteller Thomas Hürlimann hat im September 2021 im protestantischen Großmünster in Zürich eine Predigt gehalten, in der er beschreibt, wie sich die konfessionellen Gegensätze in der Schweiz eingeebnet haben, wie aber auch die religiöse Substanz dabei verloren gegangen ist. Angesichts heutiger laizistischer Forderungen nach Entfernung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum plädiert er für die öffentliche Sichtbarkeit des Kreuzes; das Schweizer Staatswappen ist universales archetypisches Zeichen und christliches Erlösungssymbol und stellt zugleich einen Bezugspunkt gemeinsamer Tradition dar.

Ein spezifischer Leserkreis für das Buch mit seinen heterogenen Beiträgen ist schwer zu bestimmen. Weder für Theologen noch für Religionspädagogen enthält es neue Einsichten. Lesenswert ist es für allgemein literarisch und religiös interessierte Leser, für die es sich wegen seiner sorgfältigen Aufmachung auch als Geschenk anbietet.

Suchbewegungen zwischen Poetik und Religion
Poetikdozentur Literatur und Religion 6
Freiburg: Herder Verlag. 2022
153 Seiten m. s-w Abb.
22,00 €
ISBN 978-3-451-39375-4

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