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Johan Huizinga: Erasmus von Rotterdam
Erasmus ist der Eulenfisch par excellence. Er verbindet die Weisheit der antiken Kultur mit dem Glauben des Christentums, und zwar von der Philologie her. Er schafft die erste textkritische Edition des Neuen Testaments und bildet damit die Grundlage für eine bereinigte Glaubenspraxis. Er eifert für ein perfektes Latein und für die bonae litterae. Glaube und Vernunft finden sich zusammen unter der Kuppel des Sprachbewusstseins und des Literaturstudiums. Europäische Kultur kann auf dieser Grundlage bei gemeinsamer Nutzung des Lateins universell sein.
Johan Huizingas berühmtes Erasmus-Buch ist jetzt in einer neuen deutschen Übersetzung von Hartmut Sommer erschienen. Es ist eine herrliche Lektüre, die dank der neuen Übersetzung leicht verläuft. Was lernen wir über Erasmus? Dass er aus Holland stammt und vor allem auf das niederländische Beamtentum großen Einfluss ausgeübt hat. Vergleichbar mit Venedig führte man den Staat mit wenig Gewalt und großer Toleranz. Im Grunde genommen ist das so geblieben. Erasmus ist in den Niederlanden noch immer eine Vorbildfigur. Die Jubiläumsausstellung 1969 im Rotterdamer Museum Boymans-van Beuningen hat nachhaltig gewirkt in dieser Mentalität von Milde und Besonnenheit, leider aber auch in einer gewissen Weltfremdheit und gleichgültigen Distanz, genauso wie bei Erasmus.
Seine Sehnsucht nach einem ruhigen Leben unter Freunden in einem kleinen Landhaus unter schattigen Bäumen ist leicht nachvollziehbar und eigentlich ganz simpel. Seine Naivität zeigt sich in seinem schwierigen Verhältnis zu Luther und zur Reformation. Er versteht ganz einfach nicht, was seine Edition des Neuen Testaments auslöst. Er will die Kirche nur bereinigen, indem er jedermann eine zuverlässige Edition zur Verfügung stellt. Aber das ist eine Revolution. Es bedeutet Entmachtung des Priestertums, es ist ein Angriff auf die Ablasspraktik und durchbricht die kirchliche Hierarchie. Das Textstudium als Grundlage der Glaubenspraxis führt dazu, dass jedermann direkt zu Gott stehen kann. Erasmus selbst scheut vor den Konsequenzen zurück, er will der Kirche treu bleiben und ihre Missstände beseitigen, ohne mit ihr zu brechen. Damit wird er für manche Zeitgenossen unverständlich.
Aber scheitert nicht das ganze Humanismus-Projekt? Ist dieser neue Klassizismus überhaupt lebensfähig? Auf jeden Fall sah es anfangs so aus.
Huizinga beschreibt, wie Erasmus‘ Bücher zustande kamen. Er verfasste sie in der Druckerei und überwachte den Druckprozess, während er weiter daran schrieb. Eine technologische Innovation, die sich heute mit der Verfassung von Blogs vergleichen lässt, damals aber völlig neu war. Logisch, dass Erasmus kaum vorhersehen konnte, wie man auf seine Schriften reagieren würde.
Dabei war er alles in allem ein wenig weltfremd. Er nimmt das Urteil anderer Menschen viel zu wichtig, weil er sich selbst ständig rechtfertigen will. Vielleicht ein Reflex seiner unehelichen Geburt, die ihn zeitlebens mit Minderwertigkeitsgefühlen belastete. Auf jeden Fall brachten Begegnungen mit anderen Menschen ihn leicht aus der Fassung. Darum versuchte er oft, sich herauszuhalten, was ihm allerdings schwerfiel.
Vieles an Erasmus ist vergessen und Vergangenheit. Was aber bleibt, ist sein Lob der Torheit, das noch immer den Menschen einen Spiegel vorhält und dessen Interpretation von Foucaults Histoire de la Folie neue Impulse bekommen hat. Es lohnt sich darum auch heute, dieses schöne Buch von Huizinga in der flotten Übersetzung von Hartmut Sommer zu lesen.
Übersetzt und herausgegeben von Hartmut Sommer
Aachen: Patrimonium Verlag. 2., durchgesehene Ausgabe 2023
235 Seiten m. s-w Abb.
20,00 €
ISBN 978-3-86417-200-7