Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Johannes Reuchlin: Ratschlag, ob man den Juden all ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll

100 Jahre Hitlerputsch, 90 Jahre Machtübernahme der Nationalsozialisten – die beiden besonderen Gedenktage des Jahres mahnen zur besonderen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Antisemitismus. Dieser ist leider nach wie vor nicht von gestern, was die aktuelle Statistik des Bundesinnenministeriums zeigt, nach der antisemitische Gewalttaten im vergangenen Jahr erneut zugenommen haben. Christinnen und Christen können einen Beitrag leisten, nicht nur indem sie sich der engen Verbindung der eigenen Religion mit dem Judentum gewahr werden, sondern auch durch Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte der Judenfeindschaft. Religiöser Antisemitismus gehört zu den Schattenseiten der Kirchengeschichte. Langlebige Klischees und Verschwörungstheorien haben ihren Ursprung in antijüdischer Polemik christlicher Autoren. Man denke etwa an die Wirkungsgeschichte von Martin Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“.

Dass man schon längst vor der Moderne und ihrem Ideal religiöser Toleranz auch als Christ für ein friedliches Zusammenleben mit den Juden eintreten konnte, zeigt das Beispiel von Luthers Zeitgenossen Johannes Reuchlin (1455-1522). Der Humanist und erste große deutsche Hebraist schrieb mit seinem „Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“ von 1510 gegen antijüdische Hetze seiner Zeit. Das Werk ist nun in einer handlichen frühneuhochdeutsch-neuhochdeutschen Neuausgabe bei Reclam erschienen. Herausgegeben und übersetzt wurde das Gutachten Reuchlins für Kaiser Maximilian I. vom Mittelalterhistoriker und Germanisten Jan-Hendryk de Boer, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und Experte u.a. für die Gelehrtenkultur des Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert.

Bereits der Titel des Werks lässt die aufgeheizte Stimmung erahnen, in der Reuchlin zur Feder griff. Ab 1507 hatte der Konvertit Johannes Pfefferkorn eine publizistische Kampagne begonnen, die darauf zielte, sämtliche jüdischen Schriften zu konfiszieren und zu vernichten, besonders den Talmud. In seinem „Juden Spiegel“ und anderen Schriften diffamierte Pfefferkorn die literarische Tradition seiner Herkunftsreligion als im Kern christenfeindlich und subversiv. Durch Unterstützer am Kaiserhof gelang es dem antisemitischen Eiferer, die Gunst von Kaiser Maximilian zu gewinnen, der ihm ein Mandat für die Beschlagnahmung der Bücher der jüdischen Gemeinden im Reich erteilte, obwohl diese eigentlich den besonderen Schutz des Reichsrechts genossen. Die zunächst enteigneten Gemeinden in Frankfurt und im Rheinland legten Beschwerde bei Kaiser und Reichstag ein und erreichten die vorläufige Zurückerstattung. Der Kaiser ließ daraufhin von verschiedenen Gelehrten Gutachten verfassen, ob die zunächst angeordnete Enteignung jüdischer Schriften aus christlicher Perspektive geboten sei. Neben Theologen der Universitäten Köln, Mainz, Erfurt und Heidelberg wurde auch Johannes Reuchlin als bester Kenner der hebräischen Sprache und der jüdischen Schriften um eine Stellungnahme gebeten. Diese fiel nicht nur deutlich ausführlicher aus als die anderen Gutachten, sondern Reuchlin sprach sich gegen die Konfiszierung und Vernichtung aus.

Er gestaltete sein Werk ganz im Stil mittelalterlicher Disputationen, indem er zunächst verschiedene zeitgenössische Gründe pro und contra aufführte, um dann eine eigene Argumentation zu bieten. Dieser stellte er bezeichnenderweise das Gleichnis vom Weizen und Unkraut (Mt 13,24-29) voran, die neutestamentliche Begründungsinstanz schlechthin für eine christliche Toleranz. Im Anschluss argumentierte Reuchlin nicht nur theologisch, sondern auch juridisch und in besonderer Weise philologisch. Auf diesen unterschiedlichen Anwegen dreht er die Stoßrichtung der Eiferer um und legte dar, welchen Verlust die Vernichtung jüdischer Schriften auch für die Christen bedeuten würde. Als wichtige Kommentierungen des Alten Testaments, Heilige Schrift der Juden und Christen, waren jüdische Werke wichtige Bezugsgrößen. Reuchlin, der von der Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugt war, weigerte sich, deshalb die Vernichtung aller anderen Schriften zu fordern. Der Widerspruch hatte zwar keinen Erfolg – abgesehen von einem publizistischen Streit mit Pfefferkorn und seinen Unterstützern –, er zeigt aber eine frühe Form christlicher Toleranz und Achtung gegenüber jüdischer Gelehrsamkeit.

Der Argumentation Reuchlins und den Polemiken seiner Gegner kann man anhand der neuen Textausgabe im Original wie in der treffenden Übersetzung mit Gewinn nachgehen. Ein Nachwort des Herausgebers und eine Zeittafel helfen bei der historischen Kontextualisierung. Die Kommentierung des edierten Textes erfolgt leider nicht über präzise Endnoten, sondern durch Angaben von Seite und Zeile im Anhang. Von der Einbindung in den Fließtext abgesehen sind die kommentierenden Anmerkungen zu Personen, Werken und historischen Zusammenhängen sehr präzise und informativ gestaltet.

Reuchlins Werk ist eine Einladung, erst gründlich zu lesen und sich dann eine Meinung zu bilden – was könnte besser helfen gegen antisemitische Klischees und Hetze? Die Neuausgabe eröffnet jedenfalls einen guten Zugang zu einem vielleicht unerwarteten Denkanstoß aus dem 16. Jahrhundert.

Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch
Herausgegeben und übersetzt von Jan-Hendryk de Boer
Stuttgart: Reclam Verlag. 2022
173 Seiten m. s-w Abb.
6,80 €
ISBN 978-3-15-014248-6

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