Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jon Fosse: Ein Leuchten

Beim Lesen von Jon Fosses Erzählung „Ein Leuchten" drängt sich der Vergleich mit Franz Kafkas kleiner Fabel von der Maus auf, deren Welt beim Lauf durch Zimmerfluchten mit jedem Tag enger wird, bis sie zuletzt in eine ausweglose und für sie tödliche Situation gerät. In Fosses Erzählung fährt ein Mann ohne Absicht immer tiefer in den Wald, biegt an Weggabelungen mal nach links oder rechts ab, bleibt schließlich mit seinem Wagen in aufgeweichter Erde stecken. Dann beginnt es zu schneien. Der Mann verlässt sein Auto, begibt sich in Kälte und Dunkelheit, läuft ziellos umher und verirrt sich gänzlich. Die Gedanken von Fosses Erzähler kreisen um die Vergeblichkeit, sich aus misslicher Lage zu befreien.

In dieser Erzählung geht es um nichts weniger als um die Frage, ob der Mensch mit seinen einmal getroffenen Entscheidungen Lenker seines Schicksals ist oder nicht. Im Rückblick ist es für den Erzähler nicht mehr nachvollziehbar, warum er den Wegverlauf so und nicht anders gewählt hat, nicht rechtzeitig umgekehrt ist und die am Wegrand liegende Hütte nicht bewusst wahrgenommen hat. Bedeutsam ist in dieser Erzählung, dass ein unbegleitetes Ich unterwegs ist. Der auf sich selbst gestellte Mensch ist in der Einsamkeit des tiefen Waldes unausweichlich mit sich konfrontiert. Die nicht mehr zu verändernde Lebenssituation des Erzählers bewirkt kein besonnenes Innehalten, sondern planloses Weiterlaufen, das seine aussichtslose Lage verschlimmert – eine Handlungsweise, die der Akteur selbst nicht begreift.

Fosse schildert seinen Erzähler als Irrläufer fern jeglicher Zivilisation und deren technischen Hilfsmitteln, er ist allein der Natur überlassen. Mitten in dieser Ausweglosigkeit wird dem Verirrten ein Epiphanie-Erlebnis zuteil – ein wahrgenommenes Lichtphänomen, das an die alttestamentliche Geschichte von Moses vor dem brennenden Dornbusch denken lässt. Geschildert wird ein zwischen dunklen Baumstämmen sichtbar gewordenes Leuchten, das inmitten nächtlicher Dunkelheit sich auf ihn hinbewegt. Je näher dieses Leuchten kommt, desto mehr erkennt er sogar die Umrisse einer Person, ohne diese als männlich oder weiblich differenzieren zu können. In der ungewöhnlich hellen Erscheinung ist kein Gesicht zu erkennen. Und etwas Außergewöhnliches geschieht: Dem Seher widerfährt neben der Erscheinung noch taktile Wahrnehmung. Er spürt plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Diese Epiphanie beschreibt der Erzähler als intime personale Begegnung und er fühlt sich mit einem Male trotz seiner aussichtslosen Lage beruhigt. Als ihn das Leuchten wieder verlässt, zweifelt er an der ihm zuteilgewordenen Offenbarung. „Aber was war da vorhin mit mir los, denn habe ich nicht eine Gestalt gesehen, so leuchtend in ihrem eigenen Leuchten? Ja das habe ich. Aber das ist nicht möglich, denn eine solche Gestalt gibt es nicht und kann es nicht geben, das widerstrebt aller Vernunft." (36)

Das Epiphanie-Erleben, das im Nachhinein beim Erzähler Momente des Zweifelns hervorruft, wird ihm als ein singuläres und nicht wiederholbares Ereignis bewusst. Dann quält ihn die Frage, ob das Wesen, das er in dem Licht ahnte, noch präsent ist. Und der verunsichert Fragende erhält tatsächlich Antwort: „Ist da wer – und höre ich nicht etwas wie ein leises Flüstern, das sagt, ja ich bin hier ... ich bin immer hier... als hätte diese Stimme eine Art warme und tiefe Fülle ... das man Liebe nennen könnte." (38) Fosse zieht mit der Formulierung der flüsternden Stimme den Vergleich zu dem Epiphanie-Erleben des Elja auf dem Berg Horeb. Dem Propheten wurde Gott im leichten Säuseln des Windes erfahrbar. Die Äußerung „Ich bin hier" verweist auf die Selbstmitteilung Gottes im Jahwe-Namen, Beistandszusage für die hebräischen Arbeitsslaven und in der präsentischen Form zeitübergreifende Zusicherung göttlichen Dabeiseins über Generationen hinweg.

Die Geschichte, die mit einer Irrfahrt begann, endet als Heimweg. Wobei der Ausdruck „Heimholung" der angemessenere wäre. Dem von seiner Wanderung müde Gewordenen erscheinen nun die verstorbenen Eltern und der Tod ebenfalls in personaler Gestalt gekleidet in einen dunklen Anzug und gesichtslos. So legt sich mit der nun endenden Weggeschichte die Methaphorik des Lebensweges nahe.

Fosses Erzählung scheint von einer persönlich erlebten Nahtoderfahrung in seinen jungen Jahren beeinflusst. Der Autor lässt den Erzähler in Begleitung seiner Eltern die Welt verlassen. Seinen Abschied vom irdischen Dasein begleiten mystische Gedanken vergleichbar denen eines Meister Eckart. Beim Hinübergang lässt der Erzähler von sich selbst ab und taucht gänzlich ein in die leuchtende Gestalt. „Ja es ist, als wäre alles ohne Bedeutung und als ob es Bedeutung ... nicht mehr gäbe, denn alles ist irgendwie einfach nur da.“ (77) „Und ja da steht ja, lieber Himmel, die leuchtende Gestalt vor uns, ja die Gestalt, die weiß schimmert in ihrem Leuchten, und sie sagt: komm mit und dann gehen wir ihr nach ... Wir gehen barfuß hinaus ins Nichts … und plötzlich gibt es nur noch die glänzende schimmernde Gestalt." (78)

Jon Fosse ist mit dieser Erzählung das Außergewöhnliche gelungen, eine eigentlich nicht in Sprache zu fassende Grenzerfahrung im Übergang zwischen Leben und Tod sowie das erschütternde Erleben einer Gottesbegegnung zu schildern. Das Buch „Ein Leuchten" ist zur bedeutenden Literatur biblischer Epiphanie-Geschichten zu zählen.

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Hamburg: Rowohlt Verlag. 4. Aufl. 2024
78 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-498-00399-9

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