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Judith Koelemeijer: Mit dem ganzen Herzen. Das furchtlose Leben der Etty Hillesum 1914-1943
Vor fünfzig Jahren hörte ich das erste Mal von Etty Hillesum: Der hellsichtige Religionspädagoge Hubertus Halbfas hatte ihre Sätze zitiert, Gott könne uns nicht helfen und wir müssten endlich ihm helfen und ihm einen Unterschlupf bei uns verschaffen, dann würden wir auch uns selbst helfen. Inzwischen sind diese Sätze aus ihrem großartigen Tagebuch (jüngst erst ungekürzt auf Deutsch erschienen) viel zitiert. Aber erst aus dieser mitreißenden Biographie wird richtig plastisch, in welchem Kontext diese Sätze geschrieben wurden, nämlich angesichts einer weiteren bösen Eskalationsstufe von Nazi-Gewalt mitten in Amsterdam. Glänzend recherchiert und spannend geschrieben, gelingt eine unglaublich detailreiche und trotzdem stringente Gesamtdarstellung von Etty Hillesums Leben und Werk, die fortan Pflichtlektüre und Standardwerk für alle näher Interessierten sein wird. Die Texte des Tagebuches gewinnen so noch viel mehr Plastizität und Gewicht, und ihre Persönlichkeit wird widersprüchlicher, lebendiger und faszinierender noch.
Deutlicher wird z.B., wie tief Etty Hillesum von Anfang jüdisch geprägt war und blieb, keineswegs nur bestimmt durch das liberal-jüdische Elternhaus, sondern durch Freundschaften und Engagements bis hinein in zionistische Kreise. Die Rede von Gott, die im Tagebuch wie vom Himmel gefallen scheinen kann und wie eine neue Entdeckung auftaucht, kommt also von weit her. Dass Etty dem Drängen von Freundinnen und Freunden, doch unterzutauchen oder gar in den bewaffneten Widerstand zu gehen, ausdrücklich nicht folgt, ist bezeichnend. Sie will „gehen für ihr Volk“ (diese Worte gebrauchte auch Edith Stein, die kurze Zeit im selben Durchgangslager Westerbork Station machen musste wie Etty Hillesum).
Viel klarer tritt die Bedeutung von Ettys russischer Mutter und deren Herkunftsfamilie ins Licht. Wie viel (Erb-) Lasten von Unterdrückung und Flucht, bis hin in stalinistische Zeiten. Ettys Liebe zur russischen Sprache und Dichtung geht weit über das Belletristische hinaus, ihre ersten Versuche zur Übersetzung von Dostojewskij u.a. blieben leider Fragment und Ihr Lebenswunsch, in Russland versöhnend wirken zu können, unerfüllt. Zur spannungsreichen Muttergeschichte kommt vom väterlichen Erbe her Ettys durchaus verständliche Angst, ähnlich anfällig für psychotische Erkrankungen zu sein wie ihre beiden ebenfalls hochbegabten Brüder.
Was schon das Tagebuch aufregend und anstößig machen kann, kommt durch die differenzierte Darstellung der ersten Lebenshälfte erst recht heraus: nicht nur das Drama des begabten Kindes, sondern auch der leidenschaftliche Lebens- und Liebeshunger einer jungen Frau auf der Suche nach sich selbst. Die Klarheit und Diskretion, mit der Koelemeijer diesen Reifungsweg einer überreich begabten und entsprechend „verrückten“ Frau beschreibt, ist von schwesterlicher Diskretion. Ettys eigenwillig freizügige Sexualmoral, ihr wildes Liebesleben und ihr absoluter Wille, ungebunden und frei sein zu wollen, kommen ebenso zur Darstellung wie ihr politisches Interesse, ihr soziales Engagement. Aber ihre frühe Neigung zum schwärmerisch Überdrehten und Idealistischen, die immer stärker an der harten Realität ernüchtert werden muss, kommt heraus. Dass das ersehnte Lebensziel „Schriftstellerei“ viel mit genauester Wahrnehmung der Wirklichkeit zu tun hat, musste sie erst langsam lernen, und dieser Lernprozess bringt im Tagebuch sichtbare Früchte bis hin zu den großen Reportagebriefen über die wahren Zustände im Lager Westerbork.
Judith Koelemeijers Biografie ist zugleich ein Stück jüngerer Zeitgeschichte in dunklen Nazizeiten. Nicht zuletzt werden Größe und Grenze ihres geliebten Lehrers und Freundes Julius Spier deutlich(er): Seine therapeutische Kompetenz und seine Praktiken, heutzutage wohl als sexueller Missbrauch zu beurteilen, sind das eine. Das andere ist seine offenkundige Ausstrahlung, die vielen aufgeholfen hat und Etty nach ihrem eigenen Urteil erst werden ließ, die sie wurde und war: eine von Neugierde und Liebe brennende Person, deren zwei Lebenshälften in rasantem Tempo und nicht ohne viele Schmerzen zu einem einmaligen Ganzen zusammenwuchsen, tragisch abgebrochen und irgendwie doch früh vollendet in einem wahrhaft tapferen Leben.
Aus dem Niederländischen von Simone Schroth
München: C.H. Beck Verlag. 2024
605 Seiten m. Abb.
34,00 €
ISBN 978-3-406-81347-4