Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jürgen Werbick: Christentum – kann das weg?

Dieser Band stellt eine Sammlung von Einzelbeiträgen dar, die je für sich lesbar sind. Gemeinsam ist ihnen die Auseinandersetzung mit dem, was Jürgen Werbick im Untertitel die „Kirchenerschöpfung“ nennt, und es spricht für ihn, dass er nicht in den Chor derer einstimmt, für die sich die Kirche auf das Thema „Missbrauch“ reduziert, sondern seine Diagnose tiefer ansetzt.

So ist dem Autor die Gegenwart durch ein „innerkirchliches Schisma“ geprägt, das die Kirche horizontal durchzieht. In ihrer institutionell verfassten Gestalt erscheint diese Kirche ihm als ein System der Macht, das mit dem Gestus des Wahrheitsbesitzes auftritt und die Glieder dessen zu disziplinieren beansprucht, was Paulus den organischen „Leib Christi“ nannte. Die Bestimmung des Menschen als Sünder breche dabei das menschliche Selbstvertrauen und mache ihn auf diese Weise für die genannte Disziplinierung gefügig. Der neuzeitliche Prozess der Aufklärung habe aber den Menschen aus dieser Unterwerfungspose befreit, so dass die angesprochene Kirchenverdrossenheit zugleich dem mündigen Katholiken einen neuen Zugang zum Gottesglauben bahne.

Nietzsches Wort vom „Tod Gottes“ signalisiert dabei für Werbick den Bedeutungsverlust desjenigen Gottesglaubens, den die Kirche auf die besagte Weise verkündet. Anders als in der Interpretation, die Nietzsche diesem Diktum gibt, zeige der sogenannte Tod Gottes jedoch in Wirklichkeit den Exodus Gottes aus seiner Kirche an. Für denjenigen, der das theologische Werk Werbicks kennt, ist die Grundüberlegung, die hinter den referierten Gedanken steckt, nicht neu. Schon vor 30 Jahren bezog er sich in seinem großen Werk über „Die Kirche“ zustimmend auf Augustinus, wenn er feststellte, dass viele, die in der Kirche zu sein meinen, in Wirklichkeit draußen seien, und umgekehrt etliche, die draußen zu sein scheinen, in Wirklichkeit drinnen seien. Insofern lässt sich die Wirksamkeit des göttlichen Geistes nicht auf die sichtbare Kirche begrenzen. Darum kann man das Wesen der Kirche von ihrem Unwesen zwar unterscheiden, aber nicht trennen, denn das Wesen der Kirche realisiert sich in ihrem historischen Unwesen. Was für Werbick seinerzeit lediglich eine Unterscheidung war, wird ihm jetzt allerdings zur Trennung. Dass im jüdischen Glauben Gott aus dem zerstörten Tempel ausgezogen ist, ist ihm der allegorische Vorausverweis darauf, wie gegenwärtig ein vom Geist Gottes geleiteter Glaube aus der – in einem wörtlichen Sinne – herrschenden Kirche auszieht.

Diesen Glauben bestimmt er als ein Grundvertrauen in das Leben und in die Welt, das einerseits sich von einem Selbstentfaltungs- und Weltvollendungswahn absetzt, das nur in die kritisierte „Wahrheitsbesitzer-Mentalität“ zurückfällt; andererseits füge dieses Vertrauen sich in ein Gottvertrauen ein, das menschliche Vollendungsstrategien relativiert und sich damit bemüht, das Ganze der Weltvollendung nur im Fragment bezeugen zu können. Der solcherart beschriebene Glaube findet seine objektive Begründung im Zeugnis von einem Gott, der seine Größe gerade in der Niedrigkeitsgestalt des Kreuzes offenbart. – Bei aller einstweiligen Zustimmung wirft die vorliegende Konzeption aber auch weiterführende Fragen und Einwände auf:

(a) Die Kritik der Kirche als Disziplinierungsanstalt ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Werbick im Jahr 1989 zu den Mitunterzeichnern der „Kölner Erklärung“ gehörte, die sich aus guten Gründen „wider die Entmündigung“ der Gläubigen und „für eine offene Katholizität“ aussprach. Aber haben in der Wirkungsgeschichte dieses Aufbegehrens Bewegungen wie „Wir sind Kirche“ nicht den kritisierten Exklusivitätsanspruch der Kirchenleitung nur unter umgekehrten Vorzeichen übernommen? Und ist der von Werbick als Ausdruck eines rechthaberischen Dogmatismus kritisierte „Weltkatechismus“ nicht die Reaktion auf die auch von ihm kritisierte Mentalität, welche die Botschaft von Gott in menschliche Selbstfindungsprozesse hinein auflöst?

(b) Dass die Bestimmung des Menschen als Sünder dem Ringen um Emanzipation und Mündigkeit im Weg stand, kann gewiss nicht bestritten werden. Aber kommen wir mit der von Werbick geforderten Abschaffung der Sünde weiter, wenn wir daraus nur eine Gefangenschaft in den Mechanismen des Bösen machen? Dass derjenige, der vom Menschen als Idee hoch denkt, sich oft gezwungen sieht, die real existierenden Menschen zu verachten, wusste nicht nur Thomas Mann, sondern darf als Fazit dessen gelten, was wir die „Dialektik der Aufklärung“ nennen. Es war in diesem Sinne kein Zufall, dass Rousseaus fünf Kinder ihr Leben in einem Waisenhaus verbrachten.

(c) Insofern ist vor allem Werbicks Darstellung dessen kritisch zu befragen, wie sich die Kirche gegenüber dem neuzeitlichen Prozess der Aufklärung in einen Elfenbeinturm vermeintlichen Wahrheitsbesitzes zurückgezogen hat und mit dem „Syllabus“ sich im Jahr 1864 gegen eine Reihe „Zeitirrtümer“ abschottete. War diese aus heutiger Sicht gewiss zu verurteilende Reaktion nicht vor allem durch die antikirchliche Gewalt motiviert, die sich in der Wirkungsfolge der Französischen Revolution an der Kirche entlud? So erinnerte jüngst der Historiker August Heinrich Winkler daran, dass die Produktivkraft des Zweifels schon von Petrus Abaelardus (1079–1142) entdeckt wurde, und Werbicks Münsteraner Kollege Alfons Fürst machte seinerzeit darauf aufmerksam, dass die Freiheitskonzepte der Moderne bereits von Origenes (geb. 185) vorformuliert worden seien.

So kann das vorliegende Werk bei wachsamer Lektüre zur Anregung werden, sich noch einmal der Aktualität von Hans Urs von Balthasars Schrift „Der antirömische Affekt“ (1974) zu vergewissern.

Glauben in Zeiten der Kirchenerschöpfung
Ostfildern. Matthias-Grünewald-Verlag. 2023
235 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-7867-3329-4

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