Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jürgen Werbick: Theologie anthropologisch gedacht

In seiner viel beachteten Abhandlung „Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage“ entwirft der tschechische Theologe und Soziologe Thomás Halík einen methodologischen Zugang, der das Verhältnis von Glaube und Kultur zu fassen versucht, und nennt diesen Kairologie. Diese theologische Hermeneutik, so Halik, ermögliche den christlichen Anspruch, die Zeichen der Zeit wahrnehmen, deuten und entsprechende Konsequenzen aus ihnen ziehen zu können. Notwendigerweise bedarf eine solche theologische Konzeption einer interdisziplinären akademischen Zusammenarbeit: „Die Theologie ist der Dienst am Glaube; der christliche Glaube hat jedoch in der Kultur und Gesellschaft Gestalt angekommen, und wenn wir ihn verstehen und ihm dienen wollen, müssen wir ihn in seinem Kontext wahrnehmen und auch diesen Kontext studieren.“ (Halik, Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage, Freiburg 2022, 38f.)

Jürgen Werbick, emeritierter Professor für Fundamentaltheologie in Münster, legt in einer umfangreichen Studie „Theologie anthropologisch gedacht“ einen Beitrag zu der skizzierten theologischen Herausforderung vor, durch grundlegende Überlegungen auf krisenhafte Umbrüche von gesellschaftlichen und kulturellen Paradigmen zu reagieren. Sein Band darf als maßgebliche Abhandlung verstanden werden, das Verhältnis einer biowissenschaftlich orientierten Anthropologie und einer dem Menschen dienenden Theologie neu in den Blick zu nehmen. Dabei ist sich Werbick der langen Tradition des Dialogs von Theologie und Anthropologie über Karl Rahner, Wolfhart Pannenberg, Otto Hermann Pesch oder Thomas Pröpper bewusst und setzt in seiner Abhandlung neue und bemerkenswerte Akzente.

Jürgen Werbick versteht Theologie in einem Dialog mit der Anthropologie nicht als die antwortende, sondern als die angefragte Instanz. Diesen theologisch zurückhaltenden Ansatz löst Werbick in seiner Studie durchgehend überzeugend ein, indem er unterschiedliche anthropologische Diskurse aufsucht. Anthropologische Disziplinen wie etwa die Biowissenschaften, Psychologie, Soziologie oder Philosophie werden für ihn zu polyphonen Partnern, um das menschliche Leben zu fassen. Dabei sind es zehn unterschiedliche thematische Felder des menschlichen Daseins, denen sich Werbick stellt: Ausgehend von Reflexionen zu „Der ganze Mensch“, über beispielsweise „Körper und Geist“, „Freiheit und Bindung“, „Selbstbewusstsein – Selbstgefühl – Identität“, „Lieben: Worüber Größeres nicht erlebt werden kann“, bis hin zu „Das Mysterium des Bösen“ werden grundlegende Dimensionen der Anthropologie in den Blick genommen. Einnehmende Überlegungen zu einem „Leben in Fülle“ runden den Band schließlich ab. Damit bietet Werbicks Studie ein eindrucksvolles Panorama und erörtert umfassend, dass es ein Mehr an Erkenntnis über den Menschen einbringen kann, im Modus der Theologie über anthropologisch artikulierte Sachverhalte nachzudenken.

Mit dem vorliegenden Band hat Jürgen Werbick nicht nur eine gleichermaßen facettenreiche wie poetische Abhandlung vorgelegt, sondern auch Maßstäbe für die künftige Verhältnisbestimmung von Theologie und Anthropologie gesetzt. Als ein maßgeblicher Beitrag zur theologischen Arbeit an den Zeichen der Zeit, an einer gegenwartssensiblen Kairologie, sei „Theologie anthropologisch gedacht“ eine breite Rezeption in Theologie und Kirche als Wunsch mit auf den Weg gegeben.

Freiburg: Herder Verlag. 2022
452 Seiten
48,00 €
ISBN 978-3-451-39265-8

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