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Julian Nida-Rümelin: „Cancel Culture.” Ende der Aufklärung?
„Sehen wir im anderen den Feind oder den Bürger der Demokratie?“ (139): Dies ist nach Julian Nida-Rümelin die grundlegende Frage, welcher wir uns heute stellen sollten – jenseits der Debatte darüber, was Cancel Culture im Einzelnen ist und ob es tatsächlich ein besorgniserregendes Phänomen unserer Demokratien darstellt. Um es vorwegzunehmen: Dass sie praktiziert wird, und das nicht erst seit kurzem, belegt eine „kleine Kasuistik“ von 48 typischen Beispielen seit 1351 v. Chr. (sic!), die Nathalie Weidenfeld am Ende der Abhandlung zusammengestellt hat (155-171). Dabei handelt es sich um „Eskalationsstufen“ von Fällen, in denen Meinungen verboten, Personen vom Diskurs ausgeschlossen oder sogar deren sozialer bzw. physischer Tod herbeigeführt wurden (155). Hexenverfolgung ist dabei etwa eine historische Fallgruppe, aber auch der Fall Galileo Galilei (46-48): Dessen Theorie musste an ihrer Verbreitung gehindert werden, da sie das kirchlich vertretene Weltbild erschütterte, das die damals herrschende politisch-soziale Ordnung gewährte (49). Doch seien diese Konflikte mit der Realisierung der Moderne keineswegs beigelegt, wie der Verfasser am Fall der Verteidigung der Freiheit der Wissenschaft ausführt: Musste diese in der Nach-68er Zeit von konservativer Seite von deren politischer Vereinnahmung geschützt werden, war es das linke Spektrum, das in den 90er und 2000er Jahren diese vor „ökonomischer Instrumentalisierung“ bewahrte (50). Darüber hinaus hat sich der Vorwurf der Cancel Culture vor allem in politisch links angesiedelten Programmen von politically correct bis woke verbreitet, in deren Namen würden konservative Positionen unterdrückt bzw. salonunfähig gemacht. Nida-Rümelin steigt nicht im Einzelnen in diese spezifische Debatte ein, indem er Cancel Culture nicht als das eigentliche Problem unserer Demokratie begreift, wohl aber als ein ernst zu nehmendes Phänomen, das zur Verschärfung der tatsächlichen Gefahr beitrage, die in den rechtspopulistischen Kräften liege (10-11). Zivilkultur und öffentlicher Vernunftgebrauch werden dabei von Anfang an als unverzichtbare Voraussetzungen für die Demokratie ausgemacht.
Diese Voraussetzungen sind jedoch keineswegs selbstverständlich: Dies zeigt bereits ein kursorischer Blick auf die Tradition abendländischer Philosophie, die seit Platon und Aristoteles über Rousseau und Kant bis hin zu John Rawls schrittweise das Bewusstsein für die Bedeutung des kritischen Vernunftgebrauchs für die Realisierung gesellschaftlicher Freiheit und politischer Partizipation herausgearbeitet hat. Die Elimination politischer Gegner bzw. Formen der Diffamierung und Diskreditierung, die zum sozialen Ausschluss von Personen führen sollten, wurden deswegen nach und nach durch die Einsicht abgelöst, dass „wohlbegründetes Wissen die Voraussetzung für ein gutes Leben in der Polis ist“ (53). Überzeugungen sind, wie der Verfasser anhand einiger praxisnaher Beispiele aufzeigt, durch „epistemische Gründe“ ausgezeichnet (58). Der springende Punkt zur Analyse von Cancel Culture findet er dann im Übergang zu den handlungsleitenden „praktischen Gründen“: Diese erlangten eigenständige Bedeutung erst mit der Aufklärung und der Überwindung einer impliziten Annahme des Vernunftgebrauchs von Platon bis Rousseau, nämlich dessen Abhängigkeit von der Idee einer kulturellen Homogenität (16-24). Formen von klerikaler Gewalt bzw. in der Neuzeit deren Ersetzung durch absolute politische Gewalt – in den Formen von Hobbes oder Rousseau – sind diesbezüglich Gegenbewegungen, welche die Auflösung dieser kulturellen Homogenität zu verhindern suchten: Dadurch wurden sie zu emblematischen Orten der Cancel Culture, die widerständige Positionen um der Aufrechterhaltung des Gemeinwesens willen auszumerzen suchte (24-30).
Es war erst Kant, der die unantastbare, d. h. nicht verrechenbare Menschenwürde begrifflich auf den Punkt brachte und sie politisch-kulturell vor allem als Grundlage der rechtlichen Ordnung zum zentralen Bezug unserer Gesellschaft machte (38-39). Das Unparteilichkeitskriterium starken moralischen bzw. religiösen Optionen gegenüber wurde schließlich von John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie in den politischen Diskurs eingebracht (42-43). Wird Freiheit demnach als individuelle Realisierung der Menschenwürde in Unparteilichkeit gegenüber den singulären Weltanschauungen verstanden, dann wird deutlich, wie Nida-Rümelin die Realisierung von Freiheit in modernen Gesellschaften versteht, und zwar als „Gegenmodell zu den Praktiken der Cancel Culture [...] nicht [als] die große Harmonie, die concordia klerikaler oder auch konfuzianischer Prägung, auch nicht [als] die platonische sophrosyne, die Tugend der Besonnenheit, sondern [als] die aufklärerisch gestimmte Kritik“ (14).
Ist es „das Ziel der Praktiker von Cancel Culture unterschiedlichster Provenienz, eine spezifische Normalität, die sie wünschen, zu erzwingen“ (80), und „etwas zu fixieren, was sich nicht fixieren lässt“ (83), dann wird gerade hier das freiheitsgefährdende Potential deutlich, insofern der Fluss der kritischen Vernunft unterbrochen wird, die sich in der Demokratie in der Fähigkeit äußert, Überzeugungen zu begründen und abzuwägen (90): Demokratie besagt nämlich nicht Repräsentation von Interessen, sondern die Fähigkeit, vom eigenen Standpunkt abzusehen (105). Dass dies auch in den Wissenschaften keine selbstverständliche Kultur ist, stellt der Verfasser durch einen kritischen Blick darauf heraus, wie auch in diesen Dissens unterdrückt wird – was sich etwa in der Verzögerung des Nobelpreises für Einstein ausdrückte – und Außenseitermeinungen marginalisiert werden (67-69). Dadurch sei der moderne Rationalismus – der sich als „anfällig für dogmatische und ideologische Umformungen“ erwies (64) – zum Szientismus mutiert, welcher sich weder auf den alltäglichen Sprachgebrauch (Wittgenstein) noch auf die Lebenswelt (Husserl) als der Wissenschaft vorausgehende Dimensionen bezieht. Mit anderen Worten: Auch die Meinung wissenschaftlicher Experten und Spezialisten darf nicht den demokratischen Diskurs unterbrechen und den demokratischen Prozess an sich reißen (107).
Der Verfasser ruft dem Leser deutlich ins Bewusstsein, dass der öffentliche Vernunftgebrauch voraussetzungsreich ist: Wenn man Diskurse führt und sich als Bürger auf die demokratischen Grundregeln beruft, dann nimmt man automatisch – ohne dass dies eigens begründet werden müsste – auf universale Voraussetzungen der Vernunft Bezug: Nach Habermas muss der Diskurs vor allem dem Kriterium der Wahrhaftigkeit (jeder kommuniziert das, von dem er überzeugt ist, und simuliert nicht, indem er die Lüge instrumentalisiert) entsprechen und sich so weit wie möglich an das Ideal der Herrschaftsfreiheit (jeder hat die gleiche Möglichkeit, sich am Diskurs zu beteiligen) annähern (97 und 102). Erkennt man dies nicht an, dann nimmt man die Wahrheit nur für sich selbst in Anspruch: „Man kann mit der Wahrheit lügen“ (98; auch 117) bzw. die Wahrheit selbst karikieren oder gar verspotten (102). Das Wissen, was der Fall ist, ist die Basis einer jeden Demokratie (111), und in dessen Diskreditierung durch die Cancel Culture liegt das Motiv, weswegen sie demokratiezersetzend ist. Das stete Nachfragen nach dem „cui bono“, d. h. die Rückführung politischer Argumente auf individuelle Nützlichkeiten, ist Anzeichen einer Kultur, die nicht mehr – durch die entgegengesetzten Meinungen hindurch – um die Wahrheit ringt (111). Doch „[o]hne den öffentlichen Vernunftgebrauch und eine vitale Zivilkultur, die diesen trägt, kann die Demokratie der Staats- und Gesellschaftsform nicht bestehen“ (109).
Eine „besonders wirksame Form von Cancel Culture“ ist das Deplatforming bzw. das Entfernen von Meinungen oder Personen von Plattformen, indem man sie diffamiert und diskreditiert (121). Aufgeklärte Vernunft verbietet es, mit diesen Methoden unliebsame Meinungen zu bannen, es sei denn, es geht um „[r]echtswidrige Aktivitäten, zum Beispiel Beleidigungen, Aufstachelung zum Völkerhass, Leugnung des Holocausts, Anstiftung zu Straftaten wie Terrorakten“ (126). Aus diesem Grund ist Nida-Rümelin besorgt um das Ansteigen des Deplatforming und fragt, ob uns die Fähigkeit abhandenkommt, „Differenzen aushalten und mit ihnen zivil umgehen“ zu können (128). Natürlich besteht ein „legitimes Interesse“, dass einige Meinungen nicht geäußert werden, nur hat die demokratische Gesellschaft für deren Bekämpfung keinen anderen Ort als den „Raum der Gründe“ (130): Demokratie ist das Vertrauen in die Urteilskraft der Bürger und Bürgerinnen (134). Besteht aber nicht genau hier die immanente Schwäche der aufklärerischen Vernunft, die prinzipiell auch ihre Feinde als Gesprächspartner ernst nimmt? Ist es ihre offene Flanke, dass sie aufgrund ihres Vertrauens auf die Stärke des besseren Arguments sich nicht auf die Ebene der Praktiken des Cancelns hinabbegeben kann, insofern sie sich sonst selbst verraten würde?
Was zu ihrer Schwäche beiträgt, ist zweifelsohne der Befund, dass „[v]on der Herausbildung eines global geteilten normativen Grundverständnisses die Welt heute weiter entfernt [ist] als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg“ (151-152). Denn es sind nicht die Institutionen und korrekten Prozeduren wie Wahlen, welche Demokratie im Kern ausmachen – so sehr sie unersetzbar sind –, sondern die „Bereitschaft, sich dem Austausch von Gründen pro und kontra zu stellen, die jeweiligen politischen Vorhaben der öffentlichen Kritik auszusetzen, auf Einwände einzugehen und darauf zu achten, dass die Prinzipien gleicher Freiheit gewahrt bleiben, oder [...] politische Gerechtigkeit zu sichern“ (87), wobei gleichzeitig „Widersprüche und Konflikte aus[gehalten]“ werden (90). Aus diesem Grund sind verstärkte Anstrengungen notwendig, so Nida-Rümelin, die Kultur der aufgeklärten öffentlichen Vernunft zu pflegen und in sie zu investieren, um die Toleranz der Gesellschaft – das Aushalten von Differenz – als wichtigste Voraussetzung der Demokratie aufrechtzuerhalten (128). Dazu kann die aristotelische phronesis, „die auf Lebenserfahrung beruhende Klugheit“, auch heute noch einen fundamentalen Beitrag leisten (134). Die einzige Möglichkeit, die Freiheit in der polarisierten Gesellschaft zu verteidigen, ist also, auf eine dialogische und inklusive Demokratie und in diesem Sinn auf die bleibende Aktualität des Projektes der Aufklärung zu setzen. In Zeiten, in denen nicht nur polarisierende Interessen sich der Macht der neuen Technologien bemächtigen, um die freiheitlichen Gesellschaften zu instrumentalisieren, sondern viele Bürger mit scheinbar effizienteren Formen des Autoritarismus liebäugeln, kann man Julian Nida-Rümelin für dieses Plädoyer für die öffentlich-kritische Vernunft nicht dankbar genug sein.
Ein Plädoyer für eigenständiges Denken
München: Piper. 2023
186 Seiten
24,00 €
ISBN 978-3-492-07179-6