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Karl-Heinz Kohl: Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne

Karl-Heinz Kohl: Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne

 

Joachim Valentin, Frankfurt a.M.

 

„Das ist kulturelle Aneignung“ (engl: cultural appropriation) – so tönt es allemal, wenn eine weiße Frau Dreadlocks trägt oder weiße Musiker Jazz oder Blues spielen, Gospel singen. Miles Davis hat angeblich weißem Publikum immer den Rücken zugedreht und erst sehr spät überhaupt mit Weißen gemeinsam musiziert. Ganz schlimme Aneigner sind auch Elvis und die Beatles.

Der Begriff hat natürlich seinen guten Grund: Immer wieder wurden von Schwarzen entwickelte Musik und andere Kunst, Bildtraditionen und Kulturleistungen indigener Personen oder Völker von Weißen nachgeahmt oder „weiterentwickelt“ – und plötzlich waren die Urheber (samt ihrer Urheberrechte) unsichtbar geworden. Der diesjährige Träger des Sigmund-Freud-Preises und langjährige Leiter des Frankfurter Frobenius-Institutes für kulturanthropologische Forschung, Karl-Heinz Kohl, ist sich all dieser Fakten bewusst, er weiß um die dunklen Wurzeln seines Faches Ethnologie (Völkerkunde) in Rassismus und Kolonialismus. Aber er entwickelt in diesem Band ungemein kundig und belesen ein Gegenmodell zum pauschalen postkolonialen Vorwurf der kulturellen Aneignung, ohne großes Aufheben darum zu machen: „Anverwandlung“ nennt er das, was zwischen „Entdeckern“ und „Entdeckten“, Eroberern und Eroberten teilweise bis heute geschieht, und zwar wechselseitig.

Der Buchtitel „Neun Stämme“ knüpft an die 12 Stämme Israel an, von denen ja mindestens der eine verlorene Stamm angeblich in den heutigen USA wiedergefunden wurde – nicht wenige Freikirchen, vor allem aber die Mormonen, fußen in ihrer Theologie auf dieser Vorstellung. Zugleich spielt der Titel mit der in der Ethnologie eigentlich inzwischen verpönten Begrifflichkeit indigener „Stämme“, während der analoge englische Begriff „Tribe“ bei uns als „Tribalismus“ unverdächtig erscheint. Der konservative Ethnologe provoziert hier und an anderer Stelle, etwa, wenn er den Begriff „Indianer“ selbstverständlich benutzt, da ja im Deutschen die Unterscheidung zwischen „Inder“ und „Indianer“ problemlos möglich sei. Dass es sich dennoch um eine koloniale Fremdzuschreibung handelt, fällt dabei unter den Tisch. Solcherlei Kritikpunkte tun aber der Genauigkeit der historischen Aufarbeitung wechselseitiger Anverwandlungen keinen Abbruch.

Auf jeweils 20 bis 30 Seiten werden sie haarklein rekonstruiert. Etwa die Rolle, die die Selbstbezeichnung „Kannibalen“ oder Anthropophagen für die Tupinambá in der brasilianischen Moderne spielte – auch hier provoziert Kohl, indem er gegen den aktuellen Mainstream die tatsächliche Existenz von „Menschenfressern“ für wahrscheinlich hält (15-34). Dass die Palau auf Tahiti eine wesentliche Rolle für den deutschen Expressionismus gespielt haben, ist ja weithin bekannt, aber dass der Stämmebund der nordamerikanischen Irokesen Wesentliches zur US-Amerikanischen Verfassung beigetragen hat – alle Väter dieser Verfassung von Washington bis Jefferson hatten enge, teilweise verwandtschaftliche Kontakte zu Irokesen – wissen doch nur wenige (35-54).

Die eigene Zunft wird nicht geschont, etwa wenn das ethnologische Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, Ruth Benedicts „Pattern of Culture“ (1934), als völlig verfehlte, ja denunziatorische Darstellung der verschwenderischen Potlach-Tradition der nordwestamerikanischen Kwakwa’wakw sichtbar wird. Ganz anders Marcel Mauss‘ Rezeption, die hier eine Alternative zum Kapitalismus erkennt und dessen deskriptive Arbeit bis in Kunst und Psychoanalyse (Picasso, Freud), surrealistische Konzepte (A. Breton, M. Ernst, G. Bataille), die amerikanische Avantgarde (J. Pollock, M. Rothko, B. Newman), strukturalistische Debatten (C. Levi-Strauss, M. Foucault) und den jüngeren Poststrukturalismus (G. Deleuze, J. Derrida) wirkte. In diesem Kapitel wird Kohls These vielleicht am sichtbarsten: keine Moderne und Postmoderne ohne Anleihen bei indigenen Konzepten, gerade weil sie als das große „Andere“ der westlichen Zivilisation erkannt und gewürdigt wurden (139-174).

Die ebenso differenzierten und (er)kenntnisreichen Ausführungen zu den Aranda Zentralaustraliens und ihrem Platz in den Ursprungsnarrativen von Kulturgeschichte, Soziologie und Psychoanalyse (55-86), den Bororo des brasilianischen Sertáo (Menschen, die rote Aras sind) (87-108), Schlangentänzen, Kunst der Avantgarde und Prophezeiungen vom Ende der Welt (Im Land der Hopi) (175-206), Samoa, dem Papalagi und dem Ende der sexuellen Repression (207-232) und den Dogon von Mali: Geschichten einer Obsession (233-259) sind allesamt lesenswert, sprengen aber den Rahmen dieser Rezension.

Dass Kohl den lesenswerten Band, den man als Summe seines reichen Werkes lesen kann, mit einem fast 40-seitigen Fußnotenapparat unterlegt und die Orientierung mit einem Namens- und Sachregister erschließt, ist außerdem positiv zu erwähne

München: C.H. Beck Verlag. 2024
312 Seiten
32,00 €
ISBN 978-3-406-81350-4


 

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