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Katharina Henkel (Hg.): Frösche, Feuer, Finsternis. Aktuelle zeichnerische Positionen zu Jan Luyken (1649-1712)
Das war ein guter Gedanke – zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler einzuladen, sich mit einem Radierzyklus eines Alten Meisters auseinanderzusetzen. Die Idee hatteKatharina Henkel, die Leiterin der „Internationalen Tage Ingelheim“. Bei dem Alten Meister handelt es sich um Jan Luyken (1649-1712). Zu dem umfangreichen Werk des Grafikers zählen die 1708 für einen Amsterdamer Verleger geschaffenen 67 Illustrationen zum Alten und Neuen Testament; gleich zehn Radierungen widmen sich den schweren Naturplagen, die dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten vorausgehen. Vorgegeben war das Medium Zeichnung; die in Beschäftigung mit Luyken entstandenen Arbeiten wurden vom 14. September bis zum 10. November 2024 im Alten Rathaus präsentiert.
Der kleine Ausschnitt auf dem Cover des Katalogs aus der Darstellung der zweiten, der Froschplage lässt es bereits erahnen: Luykens exzellente Radierungen sind Wimmelbilder von außerordentlichem Detailreichtum, der den Betrachter visuell zu überfordern droht. Um Einzelheiten genauer erfassen zu können, wurden während der Ausstellung Vergrößerungsgläser angeboten.
Auf den 38 x 47 bzw. 34 x 44 cm großen Blättern ist unterhalb des Bildes die jeweilige Plage mit Bibelstelle in Niederländisch und Französisch benannt. Den Bildhintergrund bildet ein offener Himmel mit vielgestaltigen Wolken, unter dem sich eine aus vielen Gebäuden zusammengesetzte orientalisierende Phantasiearchitektur erstreckt. Die komplexe Szenerie hat keinen eindeutigen Mittelpunkt – und selbst die zentralen Akteure Mose und Aaron mit Stab müssen erst gefunden werden. Die hochdramatischen Geschehnisse sind auf einer Ebene oder in einer Flusslandschaft angesiedelt und bestehen aus vielen Einzelszenen. Die Menschen formieren sich zu vielen Gruppen, die sich in Bewegung befinden; überall erkennt man Tiere. In Gestik und Mimik einzelner Menschen spiegeln sich der Schrecken und das Entsetzen über die eingebrochenen Katastrophen. Ewas aus dem Rahmen fällt die siebte Plage, wo zackige Blitze den Himmel erhellen und schwerer Hagel die niederstürzenden Menschen und Tiere erschlägt – es herrschen apokalyptische Zustände. Bei der Betrachtung der gesamten Radierfolge wird offensichtlich, dass ihr Schöpfer sich ganz auf die höchst einfallsreiche Bebilderung der Naturkatastrophen fokussiert hat; theologisch brisante Fragen – etwa die nach einem Gott, der erst das Herz Pharaos verhärtet, um dann sein Land mit schlimmen Strafen zu überziehen – spielen keine bildnerische Rolle.
Der reich bebilderte Katalog ist stringent aufgebaut: Nach der Einleitung der Herausgeberin (5) folgen zwei Beiträge zum Buch Exodus, in dem die zehn Plagen einen breiten Raum einnehmen (Ex 7,14-11,19. 12,29-36); zudem wird der biblische Text in der Version der Lutherbibel abgedruckt (11-13). Der Theologe und Galerist Werner Klein stellt heraus, dass die Historizität der Plagen nicht (mehr) zu erheben ist und die über sie tradierten Texte mehrfach überarbeitet wurden; ausschlaggebend ist freilich, dass die Plagen im Kontext einer Freiheitsgeschichte stehen: der Befreiung des Gottesvolkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten (7-11). Dies unterstreicht die Pfarrerin Anne Waßmann-Böhm: Gefeiert wird nicht Leid und Tod der Ägypter, sondern Israels Weg in die Freiheit nach vorheriger Unterdrückung (14f).
Ein instruktiver Aufsatz der Kunsthistorikerin Astrid Reuter zur Biografie Luykens und seiner Darstellung der Plagen (16-19) ist der zehnteiligen Radierfolge (20-33) vorangestellt. Den Schwerpunkt des Katalogs bilden selbstverständlich die (bis auf eine Ausnahme) 2024 entstandenen „Aktuelle(n) zeichnerische(n) Positionen zu Jan Luyken“ (34-71). Es folgt ein Verzeichnis der ausgestellten Werke (73-75) und eine Kurzvorstellung der beteiligten Künstlerinnen und Künstler (76 f).
Die fünf weiblichen und fünf männlichen, zwischen 1958 und 2000 geborenen Beteiligten haben sich von der Radierkunst Luykens und dem nach wie vor relevanten Thema Plagen inspirieren lassen. Einige beziehen sich auf bestimmte Bildausschnitte (wie Christian Pilz oder Malte Spohr), andere geben ausgewählten Plagen eine zeitgenössische Gestalt (wie Bettina Munk oder Brigitta Waldach). Marcel van Eeden liest die zehn Plagen als eine „Antischöpfungsgeschichte“ (68): Während Gott aus dem Chaos eine menschendienliche Ordnung schöpft (Genesis 1,1-2,4), stürzen die Plagen die vorhandene Ordnung in ein Chaos. Seine dunklen Holzkohlebilder beziehen sich auf das Den Haag vor seiner Geburt und bilden für ihn „eine Art Antizustand“. – Sandra Boeschenstein hat zehn elegante wie komplexe 56 x 77 cm große Zeichnungen mit dem Titel „Die besondere Lage“ geschaffen; im Anthropozän werde die Rede von Plagen nicht länger den heutigen Bedrohungen gerecht. Ganz anders Christian Weihrauch, der 24 nur 10 x 7 cm große Spielkartenmotive mit geplagten Menschen gezeichnet hat. Auch die hier nicht eigens genannten Arbeiten haben ihre eigene Handschrift. Eine sehr hilfreiche Sehhilfe bieten die Antworten der Künstlerinnen und Künstlern auf die von der Kuratorin gestellten Fragen.
Wer die Ausstellung nicht sehen konnte, bekommt mit dem schönen Katalog einen Eindruck von zeitgenössischen Zeichnungen, die zum genauen Sehen einladen und zum Nachdenken – etwa über uns bedrohende Naturplagen – anregen.
Herbstprojekt 2024 der Internationalen Tage Ingelheim
Ingelheim: Boehringer Ingelheim Corporate Center GmbH. 2024
80 Seiten m. s-w u. farb. Abb.
19,00 €
ISBN 978-3-9826124-1-6