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Kathrin Gies: Anthropologie des Alten Testaments
Der Mensch ist und bleibt – um eine Formulierung aus dem Beginn von Thomas Manns Joseph-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ aufzugreifen – ein „unauslotbares Geheimnis“. Das lassen auch die Texte des Alten Testaments deutlich werden und Kathrin Gies unternimmt mit ihrem kürzlich erschienenen Band „Anthropologie des Alten Testaments“ den Versuch, an einigen ausgewählten Passagen gewissermaßen das Senkblei in die Textwelt hinab zu senken, um wenigstens anzudeuten, wie die Frage nach dem Menschen in den alttestamentlichen Texten reflektiert wird. Mal erzählerisch, mal poetisch, mal offenkundig, mal implizit.
Auf eine überblickshafte Verortung der anthropologischen Frage im Kontext exegetischer Forschung und Literatur, in der Kathrin Gies sowohl auf den Klassiker Hans Walter Wolff als auch auf die äußerst umfangreiche und detaillierte Monographie von Bernd Janowski aus dem Jahr 2019 und die konzeptionellen Unterschiede beider Herangehensweisen verweist, folgen sechs Kapitel, in denen die Autorin unterschiedliche Aspekte alttestamentlicher Anthropologie zur Sprache bringt. Dabei legt sie kursorisch entsprechende Texte kurz und prägnant aus, ohne dabei oberflächlich zu bleiben. Nicht unerwähnt sei, dass es hilfreich, aber nicht zwingend notwendig ist, Hebräisch-Kenntnisse zu besitzen, um die Argumentation noch tiefer nachvollziehen zu können.
Die einzelnen Aspekte und die mit ihnen verbundenen Texte sind: a) die Geschöpflichkeit des Menschen (Gen 1; 2-3), b) die Fehlbarkeit des Menschen (Gen 4; 1 Kön 21; Ps 51), c) die Produktivität des Menschen (Koh 1; Ijob 28; Am 5), d) die Geschlechtlichkeit des Menschen (Lev 15; Hld 4; 2 Sam 13; 1 Sam 18-2 Sam 1), e) die Vergänglichkeit des Menschen (Ijob 14; Koh 12; 2 Makk 7) sowie f) der Mensch vor Gott (Ps 139; Ps 8). Am Ende jedes Kapitels, das sich einem der genannten Aspekte widmet, finden sich eine kurze Zusammenfassung sowie eine knappe Auflistung empfohlener Literatur.
In die Abfolge der einzelnen Kapitel und Unterkapitel streut Kathrin Gies insgesamt fünf Exkurse („Einblicke“) ein, durch die die Breite und Weite des inhaltlichen Spektrums unterstrichen wird. Die „Einblicke“, die ebenfalls jeweils mit einer Zusammenfassung abgeschlossen werden, widmen sich dem Spannungsfeld von historischer und theologischer Anthropologie, der rabbinischen Auslegungstradition zu Gen 1-3, der Anthropologie in Gender-Perspektive, der altorientalischen Ikonographie und der altorientalischen Vorstellung vom Menschen. Ein Ausblick auf das „Menschsein im Alten Testament und die theologische Anthropologie“ beschließt die inhaltliche Auseinandersetzung.
Mit Sicherheit ließe sich sowohl das Spektrum der genannten Aspekte erweitern statt auf zusätzliche Texte zurückgreifen. Doch gerade in der von Kathrin Gies getroffenen Auswahl liegt ein sehr positiver Wert dieser nicht umfangreichen und sehr gut zu lesenden Veröffentlichung: Sie ist nämlich aus der Praxis heraus entstanden – und für die Praxis gedacht; sie ist als Lehrbuch konzipiert und trägt nach den Worten der Autorin dem Umstand „Rechnung, dass modularisierte Studienordnungen nur wenige Veranstaltungen eines theologischen Faches wie der alttestamentlichen Exegese vorsehen“ (9). Insofern fördert das Lehrbuch einen zweifachen Lernprozess: Zum einen erarbeiten sich Leserinnen und Leser wesentliche Aspekte alttestamentlicher Anthropologie; zum anderen lernen sie, wenn sie die Arbeit an den Texten mit- und nachvollziehen, nach und nach exegetisches Handwerkszeug kennen, zumal unterschiedliche Gattungen alttestamentlicher Texte (narrative, poetische, prophetische und judikative) als Grundlage für die inhaltliche Auseinandersetzung dienen.
Was das Moment des Sich-Erarbeitens betrifft, könnten im Zuge einer nachfolgenden Auflage vielleicht inhaltliche Vertiefungen, Reflexionsfragen oder kleinere Arbeitsaufträge zu einzelnen Abschnitten entwickelt werden – möglicherweise auch im Zusammenhang mit digitalem Zusatzmaterial, wie es bei einigen utb-Bänden ja bereits der Fall ist.
Summa summarum liegt jedenfalls eine wertvolle, sehr gut zu lesende Veröffentlichung vor, die ich für Lehrende wie Lernende gleichermaßen hilfreich und weiterführend erachte: In der unauslotbaren Frage nach dem Menschen bietet Kathrin Gies‘ „Anthropologie des Alten Testaments“ exemplarisch inhaltliche Bohrungen an, die die Tiefendimensionen alttestamentlicher Texte erahnen lassen.
Grundwissen Theologie
utb 5997
Paderborn: Brill / Schöningh Verlag. 2023
238 Seiten m. s-w Abb.
20,00 €
ISBN 978-3-8252-5997-6