Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Klaas Huizing: Lebenslehre. Eine Theologie für das 21. Jahrhundert

Schon der Titel bläst die Backen auf: Eine Theologie für Gegenwart und Zukunft, ein Buch, das die Unterscheidung zwischen Sach- und Fachbuch nicht gelten lässt und auf die Bereitschaft eines breiten Publikums aus dem lesenden Bildungsbürgertum setzt, sich beim Lesen anzustrengen – so wie sich die Studenten anstrengen mussten, denen die Inhalte des Buches in Vorlesungen präsentiert wurden. Wie wird der pralle Anspruch eingelöst?

Klaas Huizing, systematischer Theologe in Würzburg, stellt in großem Gestus die traditionelle evangelische systematische Theologie – das ist Luther, gestützt auf Paulus und Augustinus, vertreten durch Karl Barth – vom Kopf auf die Füße. Ihn interessiert nicht die Zergliederung der offenbarungstheologischen Herkunft, sondern die Ankunft der „Lebenslehre“ im Menschen: „Einleibung“ ist das Zauberwort; Huizing findet sein „Philosophus dicit“ in der neuen Phänomenologie des Hermann Schmitz (1928-2021), verdichtet zum „Alphabet der Leiblichkeit“ in der Mitte des Buches. Und sein biblisches Vorbild ist weder der Prophet noch der Priester, sondern der Weisheitslehrer, den es durch spielerische Identifikation zu vergegenwärtigen gilt; der petrifizierten Begrifflichkeit der Dogmatik stellt er eine Dichtertheologie gegenüber, die den Himmel zum Sprechen bringt.

Konsequent stellt er dem priesterschriftlichen Schöpfungshymnus (Genesis 1) ein Gedicht aus dem Buch der Sprichwörter voran, in dem sich die Frau Weisheit als Begleiterin des Schöpfers vorstellt, „gewebt als Anfang seines Weges“, zur Freude des Schöpfers Tag und Nacht spielend und tanzend bei der Sache (Spr 8,22-31). Huizing wehrt sich, Genesis 3 als Ursprung der Erbsünde zu lesen; von Sünde ist in der Bibel erst im Folgekapitel zu lesen, als Kain gemahnt wird, die Sünde zu beherrschen, was ihm ja, wenn die Sünde bereits über ihn herrschen würde, nicht möglich gewesen wäre. In dieser Szene tritt die „Figur Gott“ als Weisheitslehrer auf, ebenso im Buch Hiob. Die Lösung der Theodizeefrage, warum Gott Leiden zulässt, liegt darin, dass Hiob erkennt, dass Krankheit keine Strafe ist und er deshalb nicht nach einem Grund suchen muss. Von Gott spricht Huizing demnach nicht wie von einer metaphysischen Wesenheit, ihn interessieren göttliche Gefühlsmächte, heilige Atmosphären, die vom Menschen „eingeleibt“ werden, wenn er sich dem Tanz, der Literatur, der Weisheit durch spielerische Identifikation öffnet. Kreativität ist der Schöpfung von Anfang eingewebt.

Mit Johannes 1,1 – Übersetzungsmöglichkeit: „Am Anfang war die Weisheit“ – tritt Jesus in die Rolle der Weisheit als Schöpfungsmittlerin ein. Huizing plädiert für ein Christentum als Festreligion, ein „Weihnachtschristentum“, in dem nicht Sünde und Tod im Mittelpunkt stehen, sondern die Geburt und mit ihr die in die Welt gekommene neue Freiheit. Das Christentum behauptet die Autorität eines Gefühls, der Liebe. Die Evangelisten – bei Lukas fühlt sich Huizing am wohlsten – „plakatieren“ Jesus, um für diese Theologie zu werben; klar erkennbare „Fiktionssignale“ weisen darauf hin, dass es hier um Theopoetik geht und nicht um historische Protokollführung. Doch gerade so verdeutlicht sich dem Menschen der unbedingte Ernst, geht es doch bei dem Weisheitslehrer Jesus um „Versöhnung“ – darunter versteht Huizing die Arbeit an einer gewaltfreien Gesellschaft – und „Erlösung“, die in der transzendenten Zukunft eintritt.

Huizing spricht von der ordnungssprengenden Kraft der Geisterfahrung und wirft den Kirchen vor, die Geistübertragung verbeamtet zu haben. Aber tut alles, was Ordnung sprengt, jede enthusiastische Öffnung für den Heiligen Geist den Menschen auch gut? Wir benötigen eine kritische Theologie der Atmosphären, fordert Huizing, und schlägt als Kriterium vor, dass der Geist Gottes ein Geist der Freude ist. Die lässt sich in der Kirche durchaus finden; schon der Kirchenraum kann Wohnung sein, und im Gottesdienst wird der Geist leibliche Erfahrung, wobei vor allem das Medium der Musik gute Dienste tut.

Welche Antwort haben ausgebildete Theologen auf die Frage: „Wo ist mein verstorbener Ehemann jetzt?“ Huizing bezweifelt, dass die gegenwärtige Ausbildung darauf vorbereitet, eine Antwort zu geben, die „elementar, aber nicht banal“ rüberkommt. Er zitiert einen modernen Theologen: „Das eschatologische Büro ist heute zumeist geschlossen.“ Doch am Interesse des Publikums kann es nicht liegen, wie Huizing mit einem Blick auf aktuelle Produktionen der Film- und Musikbranche belegt. Die Reformatoren waren der Überzeugung gewesen, das Ende der Welt käme noch während der eigenen Lebensspanne, eine unbescheidene Unterstreichung der eigenen Bedeutsamkeit. In der Aufklärungszeit werden „Dampfwagen und Schienenbahn“ als Boten des anbrechenden Gottesreiches begrüßt. In Huizings Augen hat eine futurische Eschatologie aber durchaus ihre Berechtigung; er plädiert für die Unsterblichkeit des Leibes, die glücklich zur Leibfreundlichkeit der jüdisch-christlichen Lebensdeutung passt. Allerdings muss man voraussetzen, dass „Leib“ nicht gleich „Körper“ ist; aber wie ist dieses Subjekt des Spürens und Wahrnehmens von Atmosphären denn dann zu fassen? – In dieser Frage rächt sich meines Erachtens, dass Huizing die „Metaphysik“ in Quarantäne schickt und Aristoteles rüde abserviert. Der Begriff „relationale Ontologie“ kommt zwar vor, aber der Leser wird nicht in den Stand gesetzt, damit etwas anfangen zu können. Immerhin wird Wilfried Härles Diktum über die „treue Dialogpartnerschaft zwischen Gott und dem Menschen“ über den Tod hinaus als hilfreiche Formulierung gelobt.

Keine Frage, Klaas Huizing hat ein tolles Buch geschrieben. Oben habe ich nur die Gedankenfolge der Kapitel referieren können, die das Buch strukturieren; hinzukommen „Stimuli“, z.B. „Schöpfung mit Hüftschwung“, durchaus lesenswert auch im Religionsunterricht. Es gibt in mehreren Folgen „Wege und Realisationsformen des Heiligen“ mit aufschlussreichen Literaturrecherchen – unter anderen zu John Maxwell Coetzee und Sibylle Lewitscharoff –, mit Betrachtungen von Bildern, von denen 13 im Buch abgebildet sind. Jedes Kapitel wird abgeschlossen durch Einblicke in den E-Mail-Verkehr des Professors mit seinen Studenten, die ihn gelegentlich in den Schwitzkasten nehmen. Huizing benutzt Vokabeln, die man sonst in theologischen Traktaten nicht so oft liest, und es könnte großen Spaß machen, ein Florilegium seiner gelungensten Kleinkunstwerke zusammenzustellen.

Aber: Mit der Schöpfungstheologie anfangen und bei der Eschatologie aussteigen: Das hatten wir doch schon mal, nämlich im Glaubensbekenntnis, das sich doch einer „Einleibung“ im Sprechchor der Gemeinde gar nicht sperrt. Wenn ich es nicht überlesen habe, kommt nicht mal das Wort „Glaubensbekenntnis“ vor. Was auch nicht vorkommt, ist so etwas wie Wissenschaftstheorie, Science of science, Grenzwissenschaften der Theologie. Das ist schade, denn man würde doch gerne Auskunft bekommen, wie sich die Leibphänomenologie zu den Humanwissenschaften verhält, und wer Distanz wahrt zum Dogma von der „Schöpfung aus nichts“, der sollte erläutern können, welchen Sinn das Wort „nichts“ heute, vor dem Hintergrund der aktuellen Kosmologie, annimmt. Schließlich sind eine Reihe von konkreten Fehlern und Ungenauigkeiten aufgefallen; über Grammatik reden wir nicht. Aber es gibt auch sachliche Fehlweisungen: Huizing referiert Lukas 10,25-37 und schreibt: „Jesus antwortet bibelfest“ mit dem doppelten Liebesgebot, also einem Tora-Zitat. Bei Lukas stellt Jesus aber eine Gegenfrage, und der Gesetzeslehrer zitiert die Tora. Genesis 3 erzählt nicht vom „Sündenfall“; das finde ich vollkommen richtig. Aber Huizing unterschlägt, dass in diesem Kapitel schon etwas Negatives passiert: Das Versteckspiel, die Furcht wegen der Nacktheit und die gegenseitigen Beschuldigungen zeigen, dass das Paradies einen Riss bekommen hat. Eva hat ja nicht nur vom Baum der Erkenntnis genascht, sondern auch am Baum des Lebens, den Huizing mit der Weisheit identifiziert, vorbeigelangt. Möge sein Buch dazu beitragen, dass das seinen Studenten und Lesern nicht passiert.

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2022
776 Seiten m. farb. Abb
38,00 €

ISBN: 978-3-579-07467-2

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