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Klaus-Rüdiger Mai: Edith Stein. Geschichte einer Ankunft
Bereits vor ihrer Heiligsprechung im Jahr 1998 richtete sich die internationale Aufmerksamkeit auf Leben und Wirken Edith Steins. Sie war eine wissensdurstige junge Frau aus jüdischer Familie, deren Leben von Widersprüchen und Ambivalenzen geprägt war, die aber stets einem moralischen Kompass folgte und nach dem letztgültigen Sinn menschlichen Lebens suchte. Letzteres führte sie zum Glauben an Jesus Christus und ebnete ihr den Weg in den Karmel. Ihr Eintreten für ihr jüdisches Schwestervolk beim Papst vor dem Hintergrund des antisemitischen Naziterrors und ihr Tod 1942 im KZ Auschwitz rufen bis heute Bewunderung hervor und sind fester Bestandteil nicht nur der christlichen Erinnerungskultur. Erste Lebensbeschreibungen wurden bereits kurz nach ihrem Tod verfasst. Seit ihrer Heiligsprechung gesellen sich nahezu jährlich neue oder neu aufgelegte Biografien hinzu. In diese Reihe fügt sich auch das aktuelle Lebensporträt des Publizisten, Historikers und Philosophen Klaus-Rüdiger Mai ein.
Warum lohnt es sich, neben diesen zahlreichen biografischen Entwürfen Edith Steins speziell diese „Geschichte einer Ankunft“ über die „Philosophin, Märtyrerin und Heilige“ zu lesen? Der Mehrwert ergibt sich aus Mais wissenschaftlich distanzierter und historisch-kritischer Herangehensweise. Akribisch zeichnet er das wissenschaftliche Suchen und Mühen der Philosophin Edith Stein vor dem Hintergrund der Ereignisse des frühen 20. Jahrhunderts nach. Er sieht in ihr das nicht beachtete Pendant zu Martin Heidegger, der wie sie Schüler des berühmten Phänomenologen Edmund Husserl war. Doch anders als Heidegger blieb ihr die Habilitation viermalig zunächst aufgrund misogyner und später auch antisemitischer Vorbehalte versagt. Mai hebt sie nun zu Recht aus dem Schatten epochentypischer Ungleichbehandlungen.
Das Buch beginnt und endet mit Edith Steins Abschied von ihrer jüdischen Familie, bevor sie christliche Nonne wird. Doch wo ein Abschied ist, ist auch eine Ankunft, die Mai bewusst als Ankommen im christlichen Glauben und in der geistlichen Familie des Karmels nachzeichnet. Wer die Biografie nunmehr angelockt vom dritten Untertitel als Lebensbild der Märtyrerin und Heiligen lesen möchte, wird enttäuscht. Dem Biografen ist daran gelegen, Edith Steins Leben als „einen noch unentdeckten Schlüssel für die deutsche Geschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts“ (338) und als philosophische Sinnsuche zu lesen. Die gläubige Christin Edith Stein und ihr Martyrium bleiben auch in den Ausführungen ihrer zunehmenden christlichen Glaubensgewissheit merkwürdig blass. Versatzstückartig und unterschwellig wird ihre Hinwendung zum Glauben reflektiert. Erst das letzte Viertel der Biografie beleuchtet sie ausdrücklich als Christin, jedoch immer vor dem Hintergrund ihrer stark philosophisch bestimmten Ankunft im Glauben. Diese Einschätzung Mais wird Edith Stein womöglich gerechter als ein oberflächlicher und instrumentalisierender Blick auf ihre religiösen Erfahrungen, um sie einseitig als Heilige und christliche Märtyrerin in den Mittelpunkt zu stellen. Zu fragen wäre dennoch, ob nicht Mais Perspektive ebenso einseitig auf die Philosophin fokussiert. In bisweilen langatmigem und fachsimpelndem Philosophie-Jargon dürfte es den in der Philosophiegeschichte unkundigen Leserinnen und Lesern bisweilen schwerfallen, den Passagen zur Verortung Ediths in der philosophischen Wissenschaftslandschaft ihrer Zeit zu folgen. Und doch ist Mais historisch-philosophische Einordnung der wissenschaftlichen und autobiografischen Quellen ungemein wichtig, um Ediths vergleichsweise spät aufglimmenden Glauben adäquat beurteilen zu können. In kontinuierlicher Verflechtung von Biografie und facettenreichem Panorama der Geschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts mit seinen Moden, Denkrichtungen und Künsten wie auch den krisenhaften Umbrüchen eröffnet der Autor ein lebendiges Epochenporträt. Mit seinem Blick über die Schulter des „kulturinteressierten Teenagers“ (81) und der erwachsenen Wissenschaftlerin Edith Stein, die selbst nur schwer mit Kritik umgehen, anderen aber durchaus überheblich vor den Kopf stoßen konnte, gelingt ihm ein erfrischend anderer Zugang zu ihrer Persönlichkeit, der sich vor einer vorschnellen Überhöhung hütet.
Da die neuere Religionspädagogik auch ambivalente und brüchige statt heroisierender Biografien wiederentdeckt, eignet sich Mais nicht religiös gefärbter Blick aus der Distanz hervorragend für die Beschäftigung mit dieser Ausnahmepersönlichkeit und ist unbedingt lesenswert.
Leben und Denken der Philosophin, Märtyrerin und Heiligen
München: Kösel Verlag. 2022
352 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-466 37271-3