Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Knut Wenzel: Die Wucht des Undarstellbaren

„Licht erscheinen die Bilder und lesbar die Zeichen, unzugänglich ist das Absolute, bildlos, zeichenlos. Die Bilder haben ihre Leuchtkraft, die Zeichen ihre Prägnanz, von diesem Grund, der, als ob von ihnen abgewandt, sie mit Bedeutungen beleiht.“ (14) –„An den Bildern, die dazu da sind, wahrgenommen zu werden, erfahren wir uns, nämlich als Wahrnehmende.“ (23)

Mit solch prägnanten Sätzen steckt der für seine schöpferische Sprache bekannte Frankfurter Systematiker Knut Wenzel im Rahmen des „Anwegs“ und der Einleitung zu seiner grundlegenden theologischen Ästhetik – er sprengt den Rahmen der in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum eher dünn gesäten „Bildtheologien“ – den Raum ab: Zur Gottesfrage ist damit ebenso Grundlegendes gesagt wie zum Menschen im Angesicht des Kunstwerkes: Das Unendliche, Gott, ist auf Dauer entzogen, abwesend, trotz und gerade wegen der Inkarnation Jesu Christi. Der Mensch aber verfügt in Bild- und Textkulturen über machtvolle („Wucht“-)Zeugnisse einer Spur oder einer „Ahnung“ Gottes, die sich katholisch-markant um die beiden Figuren Jesu und Maria gruppieren, ihn letztlich aber niemals endgültig zu sich selbst bringen.

Ohne das ausführlich zu diskutieren, nimmt der Verfasser die Debatten der Theoriebildung der letzten Jahrzehnte um Bild und Text konstruktiv auf und führt sie weiter. Derrida, Certeau, Ricoeur, aber auch Bohrer und Belting sind nur die Namen, die hier wesentlich zu nennen sind. Hegel, der bereits vor mehr als 200 Jahren das Ende der christlichen Kunst aus dem Geist des Protestantismus angekündigt hatte, wird nebenbei ad absurdum geführt. Das gleiche geschieht mit der Vorstellung, es würde aus einer Theorie des Bildes eine bestimmte Bildbetrachtung hergeleitet oder umgekehrt: Eine Phänomenbeschreibung des Bildes würde zu einer bestimmten Theorie führen. Weder deduktiv noch induktiv geht der Autor vor, sondern verflechtet Betrachtung und Reflexion in einer Weise, die zugleich plausibel und in dem Maße „unübersichtlich“ bzw. assoziativ ist, dass nicht doch der Eindruck einer Deduktion bzw. Instrumentalisierung des Betrachteten aufkommen kann. Das Bild selbst ist bereits Theologie! Einige Beispiele lassen Wenzels assoziative Arbeitsweise und breiten Wahrnehmungshorizont greifbar werden.

Das erste Hauptkapitel heißt „Maria: Figurationen und Konstellationen einer heiligen Frau“ (37-200). Gerade in den ausführlich und in großer Zahl genau und (er-)kenntnisreich beschriebenen Verkündigungsdarstellungen von Raffael bis Tanner spielt naturgemäß das Zueinander von himmlischer und irdischer Natur in der in Maria geschehenen Inkarnation eine wesentliche Rolle, gilt doch für die Ikonographie allgemein die Unterscheidung zwischen heilig und profan als konstitutiv. Diesen in Christus geheimnisvoll ineinander verwobenen Dualismus ausgerechnet quasi via negativa in der antireligiösen Pop-Hymne John Lennons „Imagine“ und seiner Unterscheidung zwischen sky und heaven auszumachen und sie so zu dekonstruieren, ohne sie zu denunzieren (67), gehört zu den Spezialitäten des ausgewiesenen Bob-Dylan-Experten Knut Wenzel.

Konsequent verschmilzt der Autor in einer tiefen Reflexion auf die Marienfigur in Domenico Parodis „Kreuzabnahme" (160ff) den irdischen wieder mit dem himmlischen Pol, indem er nicht die menschliche von der göttlichen, sondern die göttliche von der menschlichen Liebe her bestimmt und damit den Inkarnationsbegriff in die heutige Zeit der Popkultur – also der Allgegenwart der Liebessehnsucht – hineinrettet. Schon vorher hatte er die Angst der Theologen vor Anthropomorphismen mit deren Unterscheidung zur (passablen) Anthropologisierung beruhigt (80): „Das Absolute ist nicht (real als) das Allgemeine. Subjektivität ist die Verwirklichung des Absoluten im Konkreten. Gibt es Konkreteres als stoffliche Individualität? Nicht weiter teilbar, rückführbar auf anderes ist Stoffliches aber nicht gemäß seiner Materialität, sondern in seiner jeweiligen Gestalt: ‚Rose is a rose is a rose is a rose‘. (Gertrude Stein)“ (152) Theologischer gesprochen: „Inkarnation ist […] die Überkreuzung zweier Asymmetrieverhältnisse, des Menschlichen, das in Freiheit unendlich unterbestimmt ist, und des Göttlichen, das in Freiheit sich absolut bestimmt.“ (167)

Der zweite Hauptteil des Bandes „Christus: Antlitz – Korpus – Kruzifix“ (201-350) beginnt noch einmal mit Elementen einer Phänomenologie der Wahrnehmung: Blickt der Mensch ein Tier an, schaut er über einen „Abgrund des Nichtverstehens“ (John Berger). „Zwischen zwei Menschen werden die zwei Abgründe, jedenfalls im Prinzip, durch die Sprache überbrückt.“ (201) Doch gilt das auch für Christusbilder, für Bilder des Logos, des Wortes, das alle Existenz und auch die Sprache selbst ins Sein rief? Ein ungemein hoher Anspruch jedenfalls, der damit an Christusbilder erhoben wird und der zumindest im (jüdisch geprägten) Urchristentum zunächst im Bilderverbot aufgehoben war – Fisch, Kreuz, Christusmonogramm. Wenzel springt auf der Suche nach dem im beschriebenen Sinne „authentischen“ Christusbild danach sofort zur aktuell vieldiskutierten Spitze frühneuzeitlicher Christusdarstellungen: zu Albrecht Dürers „Selbstbildnis im Pelzrock“ von 1500 (205ff). Der Hinweis auf den 794 in Frankfurt kodifizierten Unterschied zwischen östlich-ikonischer und westlich-säkularer Bildtradition wird nachgeliefert. Für den Verfasser fließen bei Dürer ikonische Darstellung in heilsgeschichtlicher Zuspitzung (Salvator Mundi) und das Selbstbewusstsein des modernen (Künstler- und Unternehmer-)Subjekts Dürer durchaus in der Tradition der devotio moderna zusammen (210f). Ricoeur, Adorno, Hegel, Heidegger und Jawlensky sind die Kronzeugen der ausführlichen Reflexion, die in eine konzentrierte Betrachtung von dessen Werk „Das große Leiden“ (1937) führt und von einer Darstellung der vera-ikon-Tradition komplettiert wird. Allerdings mündet all das nicht in die in dieser Tradition scheinbar insinuierten Habhaftigkeit des Göttlichen, sondern im Gegenteil in einen unendlichen Ausdeutungs- und Dialogprozess zwischen Gott, Bild und Mensch (226-230).

Konsequent deutet Wenzel im folgenden Christusbilder des Lebens, des körperlichen Leidens und des durch ihn gewirkten Heils – von Elsheimer, de Ribera, Tintoretto, Rosetti, Velásquez, Veronese, Signorelli, Minniti, Zurbarán, Grünewald, Botticelli, Mantegna, Holbein, von Stuck, Fra Angelico, Caravaggio und Reni (mit ausführlicher Würdigung der Deutung Navid Kermanis) – natürlich nicht rein kunst-, sondern heilsgeschichtlich auf die (sakramenten-)theologischen Gehalte hin. Dies kann hier nicht nachgezeichnet, sondern lediglich exemplarisch kumuliert werden: „Mystérion ist die unterm Schleier irdischer Wirklichkeit sich zeigende (und zugleich verbergende) heilshafte Präsenz göttlicher Wirklichkeit. Mysterien des Lebens Jesu sind bedeutungsintensive Konstellationen dieser Existenz, wo göttliche Wirklichkeit beansprucht, sich in menschlichen Vollzügen zu vergegenwärtigen.“ (301)

Umfangreich, erhellend, komplex, beziehungsreich, überraschend – wen diese Attribute nicht abschrecken, sondern anziehen, dem (und allen anderen) sei Knut Wenzels Wanderung durch die Bildkulturen des Christentums unbedingt empfohlen!

Bildkulturen des Christentums
Freiburg: Herder Verlag. 2019
367 Seiten m. farb. Abb.
40,00 €
ISBN 987-3-451-30985-4

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