Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Konrad Hilpert / Jochen Sautermeister (Hg.): Kirchliche Sexualmoral vor dem Abgrund?

Das Positionspapier des synodalen Weges „Leben in gelingenden Beziehungen – Grundlinien einer erneuerten Sexualethik“ vonAnfang September 2022 (https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/SV-IV/SV-IV_Synodalforum-IV-Grundtext-Lesung2.pdf) hat die Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Delegierten, auch der Mehrheit der Bischöfe gefunden, wurde aber dennoch nicht verabschiedet, weil Beschlüsse nach dem Statut des synodalen Weges einer Zweidrittelmehrheit der Bischöfe bedürfen, die knapp nicht zustande kam. Durch das Buch zieht sich als roter Faden die Absicht, das Positionspapier umfassend mit Argumenten aus den wichtigsten Teilfächern der Theologie und mit Blick auf die zuständigen Humanwissenschaften zu rechtfertigen.

Konrad Hilpert greift im Zentrum dessen an, was als traditionelle katholische Sexualmoral gehandelt wird und wovon eine Minderheit der Bischöfe nach wie vor nicht abrücken will, dass nämlich die Sinngehalte menschlicher Sexualität als Symbol der Liebe und Mittel der Fortpflanzung nicht voneinander getrennt werden dürfen, demnach sexuelle Handlungen, die eine Zeugung von Nachkommen von vornerein ausschließen, in sich verkehrt (intrinsice inhonestum) seien. Hilpert weist darauf hin, dass dieses Prinzip zu keinem Zeitpunkt unumstritten war und von zahlreichen Initiativen des Kirchenvolkes, darunter zahlreiche Theologen, seit dem II. Vatikanischen Konzil in Frage gestellt wurde. Hilpert verneint, dass ein Verweis auf die traditionelle Doktrin zur Abwehr von Veränderungen hinreicht, da der Kirche aufgegeben ist, stets nach besser inkulturierten Lösungen zu suchen (Papst Franziskus 2016). Die Umfragen, unter anderem veranstaltet vom Vatikan selbst, zeigen aber, dass die vom genannten Prinzip geleitete Auffassung der Sexualität von der überwältigenden Mehrheit der Menschen als weltfremd beiseite getan wird.

Thomas Söding fordert einen Umgang mit der Bibel jenseits von Biblizismus und Fundamentalismus und Offenheit der Exegese für die Erkenntnisse der Humanwissenschaften. So kommt er in einer behutsamen Auslegung der Texte zu der Auffassung, dass Ehe und Fortpflanzung in der Bibel hohe Wertschätzung finden, dass aber der Schluss, Sexualität sei nur in diesem Rahmen zulässig, keine biblische Grundlage hat.

Jochen Sautermeister problematisiert in seinem Beitrag die Argumentation mit persönlichen Erfahrungen, Andreas Lob-Hüdepohl die selektive und verengte Inanspruchnahme wissenschaftlicher Einzelaussagen. Thomas Laubach antwortet auf die Klagen der Kritiker des Positionspapiers, hier verschwinde hinter der Beachtung der Zeichen der Zeit die Orientierung an Offenbarung und Tradition, indem er darauf beharrt, dass sittliche Prinzipien der Vernunft zugänglich sein müssen, ein Prinzip, das gute theologische Tradition seit den Anfängen der Kirche ist. Johanna Rahner deutet die Nichtannahme des Positionspapiers von der Frage her, was passiert, wenn das Kirchenrecht die Grenze des theologisch Möglichen vorgibt. Sie fordert Checks and Balances in der Kirche, Überwindung einer nicht mehr akzeptablen Autokratie.

In seinem zweiten Beitrag greift Jochen Sautermeister die Formel vom Missbrauch des Missbrauchs an, derzufolge der Missbrauchs- und Vertuschungsskandal im katholischen Klerus nicht als Anlass geeignet sei, die moralischen Prinzipien der Kirche in Frage zu stellen. Der Autor schließt aber aus den Beobachtungen der MHG-Studie zu sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche Deutschlands (die von der Homepage der Deutschen Bischofskonferenz heruntergeladen werden kann: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf ), dass die kirchliche Sexualmoral, z.B. durch die Verurteilung der Homosexualität, ein Umfeld herstellte, das den Missbrauch und sein Verschweigen durchaus begünstigte. Christof Breitsamer setzt sich mit der naturrechtlichen Argumentationslinie auseinander, die aus dem der Sexualität innewohnenden Zweck der Fortpflanzung auf die Naturwidrigkeit von Sexualpraktiken schließt, die die Fortpflanzung verhindern wollen. Breitsamer zeigt in einer klugen Analyse des Naturbegriffs bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant, dass man die These nicht mehr vertreten kann, wenn man die tieferliegenden Gründe, die Thomas und Kant zu ihren Urteilen bewogen haben, miteinbezieht. Als Hobby-Pflanzenzüchter drängt es mich zu ergänzen, dass Sexualität in der Biologie weder notwendige noch hinreichende Bedingung der Fortpflanzung ist.

Kerstin Schlögel Flierl fragt zusammen mit Tim Zeelen: „Wo ist das Leuchten?“ und beklagt mit dem Aachen Bischof Helmut Dieser, dass er in einer aufgeklärten, säkularisierten Welt mit einer Tradition im Rücken, die auf Beharrung setzt, einfach nicht mehr zum Thema Sexualität predigen kann. Das müsste nicht so sein, wenn die Kirche, wie Wunibald Müller fordert, den Menschen anbietet, sie dabei zu unterstützen, ihre Sexualität als Bereicherung zu erfahren. Dazu passt auch der Appell von Martina Kreidler-Kos, dass die Kirche, die in der Vergangenheit durch ihr Lehramt viel dafür getan hat, Menschen unsichtbar zu halten, diese Intention umkehren muss. Sie geht auf Erfahrungen der Liebe und des Leids ein, die Menschen, die aus dem Rahmen fallen, in unseren westlichen Gesellschaften machen müssen, und fordert vehement, dass eine Religionsgemeinschaft, die den Gott der Liebe verkündet, solchen Erfahrungen Raum geben muss.

Das Buch zeichnet sich durch eine große Breite von Aspekten und Argumenten aus. Vielleicht kommt die kirchliche Praxis etwas zu kurz, denn in ihrer Sexualpädagogik haben Angestellte der Kirche – ich denke an Religionslehrkräfte und Beraterangebote – längst Wege gefunden, die Tradition Tradition sein zu lassen und auf die wirklichen Fragen ihrer jeweiligen Klientel hilfreich einzugehen.

Theologische Perspektiven zum synodalen Weg
Katholizismus im Umbruch 16
Freiburg. Herder Verlag. 2023
248 Seiten
32,00 €
ISBN
978-3-451-39547-5

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