Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Lorraine Daston: Regeln. Eine kurze Geschichte

Dass die Welt nicht nicht ist, galt lange Zeit als hinreichender Ausweis ihrer besonderen Würde, ja sogar als kosmologischer Gottesbeweis. Warum die Welt ist, wie sie ist, erklärte sich dabei quasi von selbst (durch die Schöpfung und den notwendigen Respekt vor ihr), so dass en passant allen Beteiligten Bedeutung zugeschrieben werden konnte – der Welt (als Werk), Gott (als Schöpfer) und dem Menschen (als respektables Geschöpf, nicht zuletzt im Sinne seines unerlässlichen Respekts für die Schöpfung und den Schöpfer).

Warum die Welt heute so ist, wie sie ist, will sagen: in so schlechter (ökologischer, politischer, wahrscheinlich darf man auch sagen: kirchlicher) Verfassung, führt konsequenterweise dazu, sich zu fragen, wer die Verantwortung dafür trägt. Bedeutsam genug wären dafür im Rahmen der o.g. Diskursgeschichte eigentlich nur Gott oder der Mensch: Entweder sind wir zu schlecht oder er ist zu schwach – lautet die Kurzfassung dieser Anklage. Im Sinne der Säkularisierung fällt ein Rekurs auf Gott heute weitgehend aus; es bleibt also nur eine Selbstanklage des Menschen übrig, so wie sie derzeit z.B. von der „Letzten Generation“ u.a. rigoros vorgebracht wird. Proteste und Mahnwachen verteilen die Verantwortung als Schuld allerdings immer einseitig auf die anderen. Für komplexe Analysen der Verantwortlichkeiten und damit für differenzierte Antworten reicht das nicht. Zur Verbesserung der Lage auch nicht, so wichtig ihr jeweiliger Beitrag für mehr Problembewusstsein an sich ist. Liegt es wirklich nur am (nicht völlig unbegründeten) schlechten Eindruck von sich selbst oder dem ganz anderen? Oder könnte man vielleicht anders handeln, wenn man auch anders von sich und seinen Ressourcen und Möglichkeiten dächte?

Der Clou des Buchs von Lorraine Daston liegt darin, den Denkhorizont für die berechtigte Frage nach einer Verantwortung für die Zukunft zu öffnen. Es könnte ja sein, dass diese Frage weder essentialistisch durch Hinweis auf substantielle Eigenschaften bei Gott oder den Menschen zu beantworten ist, sondern ihre Antwort im richtigen Gebrauch einer regulativen Idee liegt: Geben wir uns vielleicht die falschen, weil unangemessenen Regeln? Wären bessere möglich? Welche wären das?

Das Buch bietet dazu zahlreiche, gut begründete und dokumentierte, ja sogar systematisch angelegte Antwortoptionen, die allesamt darauf hindeuten, dass die Frage mehr als berechtigt ist. Die Antwort sei allerdings nicht im zeitgenössischen Reflex auf „die denkfaule Abkürzung „Moderne““ (318) zu suchen. Zwar vermisst das Buch den geschichtlichen Bogen seines Themas entlang der „Unterscheidung zwischen vormodernen und modernen Regeln“ (317), aber Daston legt Wert auf die Feststellung, dass diese Etikettierung eher von darunterliegenden Problemen ablenkt, als diesen analytisch zu dienen. Und der Grund dafür findet sich ihr zufolge in den hoch relevanten Kontextbedingungen von Regeln. Diese Bedingungen hängen weniger von der Zeit ab als von den Einsatzbereichen, in denen unterschiedliche Stabilitäts- und Standardisierungsbedingungen gelten, Voraussagbarkeit und Gleichförmigkeit verschieden verteilt sind. Sich angemessene Regeln zu geben, fällt in der Welt anscheinend nicht überall gleich aus. Es ist eine Frage des Maßes. Wo etwa die Ökonomisierung die Welt regiert, wird ihr Sinn von einem Regelwerk der Zahlen einseitig beherrscht. In einer so „künstlich stabilisierten Welt lässt sich der Ermessensspielraum beträchtlich einschränken“ (318) – ein Blick in die Bilanzen ersetzt die Frage nach der eigenen Verantwortung für die Gestaltung der Welt.

Die „kurze Geschichte“ der Regeln (so der allzu bescheidene Untertitel) liefert in Wahrheit „eine lange Geschichte der Regeln“ (14, 322), in der von unterschiedlichem Gebrauch (mit und ohne Ausnahmen bzw. Ermessensspielraum, kasuistischem, billigendem, analogem Gebrauch; nebst dem Biegen oder Brechen von Regeln sowie Prärogativen und Präzedenzen) verschiedenartiger Regeln (ungeschriebene, allgemeine und spezifische, schlanke und füllige, explizite und implizite, Gesetze, Vorschriften, Normen und Algorithmen, etc.) in der Menschheitsgeschichte ausführlich die Rede ist. Als Resümee dieser Studie über Regeln darf man festhalten: Ihr „Netz ist derart dicht gewebt, dass kaum eine menschliche Aktivität durch die Maschen schlüpft“ (11). Rechtschreibung gehört ebenso dazu, wie Mode oder auch die Anordnung des Bestecks neben dem Teller. Daston zufolge ist die Geschichte der Regeln sogar eine Geschichte der Rationalität, „die ihrerseits durch Regeln definiert wird“ (27). Dieselbe Interdependenz konstatiert Daston bezüglich der Ordnung: „In einer auf Regeln basierenden Weltordnung hängen die Regeln ebenso von der Ordnung ab wie die Ordnung von den Regeln.“ (32) Zwar sagt es Daston nicht explizit, aber sie versteht unter Regeln eindeutig eine regulative Idee, die die Erfahrung und Gestaltung von Welt zentral steuert.

Insofern gilt: Man kann sie zwar nicht umgehen, aber entweder im angemessenen Umgang mit ihnen viel richtig bzw. viel falsch machen, wo es daran hapert. In der Welt von heute sind die Fehlerquellen dabei so verstreut wie in einem Minenfeld – fast überall lauern Risiken, beim Umgang mit Regeln genauso wie beim Zugriff darauf (314, 317): In einer Welt mit großen Schwankungen und geringer Vorhersagbarkeit waren Ausnahmen stets die Regel – es gab so viele davon, dass sie in die Regeln aufgenommen wurden. Improvisation, Justierung und Anpassung an die Umstände waren selbstverständlich; die Regel erwies sich dadurch als hinreichend dehnbar. Rationale Bürokratien haben die Macht zur Ausnahme in der Moderne schrittweise erodieren lassen. Hinzu kommt der Trend zur straffen Regulierung durch verstärkten Einsatz von Algorithmen (105ff), quasi mechanische Regeln, die dem Kontext entfliehen, indem sie ihn ignorieren. Den Kontext für diesen Gebrauch „einzufrieren“ (325), schürt den Glauben an eine Welt ohne Anomalien und Überraschungen und wird von „Notsituationen“ (321) wie einer Pandemie oder Naturkatastrophe prompt kalt erwischt: Je strikter wir planen, desto sensibler werden wir für solche „unknown unknowns“, wie unbekannte Risiken u.a. in der Medizin, Politik und Entscheidungstheorie heute genannt werden. Ulrich Beck nannte das einst die Weltrisikogesellschaft. Daston spricht angesichts der gegenwärtigen Häufung von „unsicheren Situationen“ (321) von einer „Bruchsituation“ (321), in der sich die Regeln derart schnell verändern, dass letztlich alle Regeln dadurch unterminiert werden. Sie entlarvt dabei die Krisenrhetorik, die unter diesen Umständen aufkommt, als „Regelschwindel“ (324), weil eine Notlage, die sich über Jahre hinzieht, längst zur neuen Normalität gehört: Die auffälligen Ausnahmen von gestern werden mit der Zeit zu den Regeln von heute, erklärt Daston. Wo wie bei aktuellen Krisendiagnosen die Ausnahmen zu lange gelten sollen, liege Regelschwindel vor: Es gelten längst neue „Hintergrundregeln“ (318), an die sich aber keiner hält, weil sie keiner kennt und jeder die reguläre Rückkehr in den Status quo ante erwartet, aller Erfahrungen und Widrigkeiten zum Trotz. Das untergräbt „die bloße Idee der Regel“ (324) und schürt nicht ganz unfreiwillig, mindestens aber aktiv-passiv das irreguläre Moment der Welt von heute.

Durch die Lektüre des Buchs wird klar, dass unterschiedliche Verknüpfungen von Gebrauch und Gattung der Regeln immer wieder stattgefunden und damit das Arsenal an Regeln stets erweitert haben, so dass es immer schwieriger geworden ist, den Überblick und vor allem die Durchsicht durch den Dschungel bestehender Regeln zu wahren. Schlimmer noch: Das Urteilsvermögen wird von diesem Regeldschungel herausgefordert und sogar überstrapaziert, „weil ihre Anwendung die Kluft zwischen Universalien und Einzeldingen überbrücken muss. Erstens müssen wir entscheiden, ob eine bestimmte Regel zu einem bestimmten Fall passt oder ob wir eine ganz andere Regel anwenden sollten ... Zweitens, selbst wenn Regel und Fall eindeutig zueinander gehören, passen sie doch fast nie perfekt zusammen. In größerem Umfang bedarf es des Zuschneidens und Justierens, um die Lücke zwischen Universellem und Einzelnem zu überspachteln.“ (27)

Daston zufolge gibt es seit der Antike drei „Urbedeutungen von Regel“ (12f): erstens Werkzeuge zur Messung und Berechnung wie Algorithmen und andere mechanisierte Regeln, zweitens Vorbilder und Modelle sowie drittens Gesetze. Natürlich kann man wie bei jeder Typologie darüber streiten, ob diese drei Archetypen quasi vom Himmel gefallen sind und warum das gerade in der Antike der Fall gewesen sein soll. Womöglich sind diese Regeln lediglich die Erben von fundamentalen, vielleicht vorangegangenen Sinndispositiven wie z.B. Selbsttechniken (im Umgang mit sich, seinem Körper und seiner sozialen wie naturalen Umwelt), die als Regulationskraft andere Spuren in die Gegenwart legen würden – eher in Richtung eines ausufernden Kontrollbedürfnisses als Ersatz für unsicheres Bindungsverhalten; immerhin: Eine besondere Verbindung der Regeln zur „techné“ (62) räumt Daston ein. Dennoch ist der Hinweis auf dieses „antike Dreigestirn“ (13) zur Beurteilung angemessener Regeln in der Welt von heute von großem Nutzen. Vor allem deshalb, weil er Bilanz gegen den Zeitgeist ziehen und damit seine Schwächen erkennen lässt. Daston zufolge haben sich von den drei Urbedeutungen im Verlaufe der Geschichte nur zwei Formen gehalten, gefragt wäre heute aber die dritte Form: Algorithmischer Gebrauch und Gesetzesinitiativen sind heute zwar en vogue, aber sie sind zu unelastisch, um auf den außerordentlichen Wechsel von Hintergrundregeln geschmeidig zu reagieren. Das Vorbild bzw. Modell, für das Daston als historisches Beispiel die Regeln der klösterlichen Gemeinschaft anführt (insbesondere den Abt als Vorbild seiner Gemeinschaft, 19), wäre ihr zufolge prädestiniert als füllige Regel, die Unordentlichkeit der Welt aufzunehmen, ohne darunter zu kollabieren, wie das bei den beiden anderen, schlanken Ur-Regeln der Fall ist.

In der Tat: Was spräche inmitten des Anthropozäns dagegen, sich ausgerechnet den Menschen zum Vorbild bzw. Modell zu nehmen (19), statt ihn lediglich als schuldhaften Verursacher auf der Suche nach einer besseren Welt von vornherein auszuschließen? So bliebe nach dem säkularisierungsbedingten Ausfall Gottes wenigstens der Mensch als Akteur erhalten. Allerdings setzt das seine idealtypische Anrufung (und Erreichbarkeit!) voraus – sonst bekommt man es wie bei Klostergemeinschaften von heute mit einer fülligen Regel zu tun, die hinter einer schlanken Realität (und ihren Regeln) „aufräumt“ (319), statt sie produktiv umzugestalten.

Der idealtypische Ausklang des Buchs mindert seinen Beitrag zur Frage der Gestaltung einer besseren Welt nicht – dafür ist die gebotene Durchsicht durchs Regelinventar unseres Lebens und seine Auswirkungen zu bedeutsam. Irritiert ist man nur, dass die Differenziertheit der Analyse an dieser Stelle abgebrochen wird – und mehr noch darüber, dass die kundigen und hoch prominenten Kritiker des ursprünglichen Vorlesungsmanuskripts (u.a. aus Harvard bis zum Max-Planck-Institut) nichts dazu beigetragen haben, dass das hohe Analyseniveau bis zum Schluss gehalten wird. Das könnte an den Regeln der akademischen Welt liegen: In den Humanwissenschaften gibt es für Monographien noch kein anonymisiertes Peer-Review-Verfahren wie bei Fachaufsätzen. Und im vertrauten, zwischenmenschlichen Umgang miteinander wird wissenschaftlich weniger unbarmherzig geurteilt. Da kann eine lockere Sammlung von Beispielen zur Illustration von Regeln, Gesetzen und Vorschriften schon einmal als Material von „Fallstudien“ (186) durchgehen, solange die argumentative Richtung stimmt. Vielleicht liegen im Modell/Vorbild Mensch gerade aufgrund seiner Abweichungstoleranz tatsächlich unerkannte Chancen für die großen Kurskorrekturen, wie sie die Welt von heute abverlangt, wenn es besser werden soll.

Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2023
432 Seiten m. s/w Abb.
34,00 €
ISBN 978-3-518-58804-8

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