Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Manfred Gerwing: Gott – mehr als ein Wort. Grundlagen der Gotteslehre

Der profilierte und inzwischen emeritierte Eichstätter Dogmatiker und Dogmengeschichtler Manfred Gerwing (Jg. 1954) krönt seine Gelehrtenlaufbahn mit dem großen Werk „Gott – mehr als ein Wort“, in dem er systematisch, historisch (nicht historisierend!) und an Porträts orientiert die Grundfrage nach Gott erörtert. Die Darstellung fordert intensives Mitdenken, ist trotz eines hohen und auch oft abstrakten Niveaus verständlich und durch Bezüge zu Quellentexten und konkrete Prüfungsfragen „kompetenzorientiert“, wie es schon im Klappentext heißt.

Der Theologe ist Schüler des bekannten sudetendeutschen Historikers Ferdinand Seibt (1927-2003) und des Bochumer Dogmatikers Ludwig Hödl (1924-2016). Er qualifizierte sich mit gewichtigen mediävistisch-theologischen Arbeiten, die ihm 2002 den Ruf nach Eichstätt einbrachten. 2005 übernahm er von Hödl die Mitherausgeberschaft der renommierten Münsteraner „Baeumker-Reihe“ zur „Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters“. Gerwing war neben seinem Lehrstuhl seit 1996 auch leitend am kirchlichen „Institut für Lehrerfortbildung“ in Essen-Werden tätig und erhielt bei seinem Ausscheiden dafür aus der Hand des Münsteraner Bischofs Felix Genn 2019 einen der höchsten kirchlichen Orden für Laien, den päpstlichen Gregoriusorden.

Die Gotteslehre ist der zentrale Traktat katholischer und evangelischer Theologie. Seit Überwindung der Neuscholastik durch ein mehr heilsgeschichtliches Denken wird keine Trennung mehr zwischen der Lehre von „Gott dem Einen und dem Dreipersönlichen“ (L. Ott) vollzogen. Die neueren katholischen Lehrbücher der Gotteslehre von Johann Auer (1978), Walter Kasper (1982), Franz Courth SAC (1993), Gerhard L. Müller (1995) und Leo Scheffczyk (1996) sind trinitarisch orientiert und werden nun durch Gerwings historisch-analytische Portraits der abendländischen Theologiegeschichte erweitert. Der aktuelle Forschungsstand der Trinitätslehre, die den christlichen Gottesbegriff vom reinen Monotheismus des Judentums und des Islams unterscheidet, wird eingangs mit Thomas Schärtl-Trendel (München) knapp skizziert und auf das Verständnis von Person konzentriert – mit einem Exkurs „Eigenschaften Gottes?“ Als Wesenseigenschaft Gottes wird dann mit 1 Joh 4,8 „die Liebe“ gesehen (41-47). Sozial- oder Geschlechtertypologien sollten aber nicht trinitarisch verzweckt werden. Auch der Grundtenor des Buchs, die oft wiederholte Erkenntnis in Anselm von Canterburys „Proslogion“ von Gott als jener Wirklichkeit, „worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“, ja mehr noch „jene Wirklichkeit, die größer ist als all unser Denken“ (42), wird erstmals erwähnt. Darauf folgen spannende Kapitel mit Gegenwartsbezügen: „Leben ohne Gott?“ geht auf den vom Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki erneuerten Projektionsvorwurf Feuerbachs ein, „Eine kleine Geschichte des Größten“ liest sehr kritisch Manfred Lütz‘ gleichnamigen Bestseller „Gott“ (2010), dem keine Widerlegung Feuerbachs gelungen sei, weil er (wie Hans Küng, der nur nach „Existiert Gott?“ fragt) die ganz andere und größere Größe Gottes nicht im Blickfeld hat (55).

Kapitel 5 behandelt dogmatische Perspektiven, die Orientierung am „Credo“ der Kirche und den darauf gegründeten Gottesbegriff. „Sieben Thesen“ (69) machen das didaktisch vermittelbar. Kapitel 6 und 7 („Glaube und Theologie“; „Zur Hermeneutik“) reflektieren facettenreich die Sprachweisen des Glaubens und mit Thomas von Aquin die Wichtigkeit des Schweigens, die auch die Mystik prägt. Gerwing zitiert Rilkes bekanntes Gedicht „Der Panther“ als Beispiel einer religiösen Sprache und Erfahrung (80f). Theologie wird methodisch als Wissenschaft vorgestellt, deren Prinzip die Lehre der Analogie bildet und die sich biblisch und literarisch der historisch-kritischen Methode bedient. In den Kapiteln 8 und 9 wird dies breit in alttestamentlicher (Gott unserer Väter, Name Gottes, Gott des Bundes, Schöpfer-Gott) und neutestamentlicher (Gott Jesu, sich in Jesus offenbarender Gott, Ikone Gottes) Sicht von Gerwing exemplifiziert. Dabei führt er verschiedene Richtungen und Schulen der Exegese ergänzend zusammen, kann Klaus Berger oder Thomas Söding gleichermaßen zitieren.

Die Gotteslehre der großen Theologen der Patristik von Irenäus von Lyon bis Dionysius Areopagita wird bildhaft und lehrreich mit biografischen Bezügen dargestellt (206-284). Trinitarisch ausgeführt wird der Personenbegriff bei Boethius als Hypostase, als „natura rationabilis individua substantía“ (267) und als Ausklang das oft fälschlich „athanasiasisch“ bezeichnete Glaubensbekenntnis „Symbolum Quicumque“ (DH 75f) lateinisch-deutsch zitiert. In den nachfolgenden Kapiteln über die Theologie des Mittelalters (285-424) ist Gerwing in seinem Element und man spürt bei jeder Schilderung den Experten, für den der ehemalige Bochumer Kollege Kurt Flasch mit seinen Augustinus-, Cusanus- und Eckhart-Forschungen trotz seiner Distanzierung vom Christentum ein kritisch-respektierter Antipode ist und dessen „Buch der 24 Philosophen“ über die Gottesfrage zitiert wird. Kein großer Geist von der Frühscholastik (Anselm, die Viktoriner, Rupert von Deutz und Joachim von Fiore) und Scholastik (Bonaventura, Thomas von Aquin, Meister Eckhart, Duns Scotus) bis hin zu Nikolaus von Kues wird ausgelassen, alle werden in ihrer Gotteslehre erfasst, verstanden und kongenial dargestellt.

Manfred Gerwings Rezeptionsfähigkeit und Urteilskraft beschränkt sich nicht auf das Mittelalter, sondern zeigt sich auch im Umgang mit Martin Luther, dessen biblisches Gottesverständnis anerkannt und nicht (wie bei A. v. Stockhausen) manichäisch verdächtigt wird. Hochinteressant der geschilderte Disput Luthers mit Erasmus über den „freien Willen“ und die über Leibniz und Kant hinwegspringende Analyse von Hegels Gottes- und Trinitätslehre. Einzigartig sind in Kapitel 13 („Exemplarische Konzeptionen gegenwärtiger Trinitätstheologie“) Gerwings ausführliche Charakterisierungen evangelischer Trinitätstheologen: Karl Barth, Eberhard Jüngel, Wolfhart Pannenberg und besonders intensiv Jürgen Moltmann, bei dem der auch für Balthasar zentrale Begriff der Sendung („missio“) gesehen wird. Nicht weniger instruktiv sind die Portraits der katholischen Theologen Karl Rahner, der die Identität von immanenter und ökonomischer Trinität lehrte, Hans Urs von Balthasar, der „theodramatisch“ und in seiner „Theologik“ eigene Akzente setzte, und Joseph Ratzinger, dessen Gottesbild anhand seiner „Einführung in das Christentum“ exemplifiziert wird. Kapitel 14 widmet sich dem Thema „Gott im Dialog der Religionen“ und geht von den Dialogtheologen Ramon Llull (1232-1316) und Nikolaus Cusanus (1401-1464) aus. Den postmodernen pluralistischen Religionstheologien (John Hick, Paul Knitter) wird der „Absolutheitsanspruch des Christentums“ (555) jenseits von Exklusivismus und Inklusivismus mit Cusanus ein „Präsumtivismus“ (559) und die Liebe als „Inhalt christlicher Offenbarung“ (560ff) gegenübergestellt. Dabei reflektiert Gerwing auch auf die Religionen des Buddhismus und des Islam, mit denen der Dialog nicht abstrakt, sondern nur auf der Ebene der Liebe geführt werden kann. Abzulehnen sind alle Formen des Pantheismus und des Deismus. Man spürt bei aller Wissenschaftlichkeit: Gerwing kennt die Sorgen und Nöte der Lehrerinnen und Lehrer vor Ort, vor allem die ständige Jagd nach geeigneten Texten für den konkreten Unterricht. Sein „Opus magnum“ ist eine wahre Fundgrube von exponierten Essays (mit Lehrerkommentar) zum Thema „Gott“ für jeden Religions- und Philosophieunterricht.

Zum Abschluss geht es dem Eichstätter Dogmatiker um die Theodizee, das nie beantwortete Thema „Gott und das Leid“ (572-591). Das Leid Unschuldiger war für den Dichter Georg Büchner in seinem Drama „Dantons Tod“ der „Fels des Atheismus“ (573). Die Frage nach dem Sinn des Leidens sei unbeantwortbar, auch die „Prozesstheologie“ (576) wisse nicht weiter. Einen subtilen Ausweg bildet allein die cusanische Reflexion und Hoffnung auf das sich ins Ewige erhebende „Können selbst“ (578-587), auf das „Über hinaus“ dessen, der mit Anselm größer als alle Gedanken über ihn ist. Das Leben der Liebe ist ein Risiko, aber nur in ihr kann jener Wunsch aus des Boethius „Consolatio philosophiae“ Wirklichkeit werden, den Gerwing zum Schlusssatz seines inhaltsreichen, konzentrierten und die Jahrtausende überblickenden Lehrbuches wählt: „O felix hominum genus, si vestros animos amor, quo coelum regitur, regat!“ (Glückselig der Mensch, in dessen Herz jene Liebe herrscht, die auch den Himmel regiert).

Eichstätter Studien Bd. 86
Regensburg: Verlag Friedrich Pustet. 2024
648 Seiten
68,00 €
ISBN 978-3-7917-3325-8

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