
Bestellen
auf Buch7.de - sozialer Buchhandel
Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens
Marcus Willaschek, Professor für Philosophie an der Frankfurter Goethe-Universität, ist ein renommierter und international anerkannter Experte für Immanuel Kant. Mit seinem Buch „Kant. Die Revolution des Denkens“ stellt er sich der Herausforderung, die zentralen Themen und Grundideen von Kant einem breiteren Publikum auf eine verständliche Weise zugänglich zu machen, ohne die Komplexität und das argumentative Niveau seiner Philosophie zu unterlaufen. Diesen stilistischen Spagat zu meistern, gelingt Willaschek auf eine beeindruckende Weise. Die verdiente Anerkennung für diese Leistung zeigt sich in der Nominierung dieses Werkes für den Deutschen Sachbuchpreis 2024.
Auf knapp 400 Seiten bietet dieses Buch einen sehr guten Überblick und eine pointierte Einführung in die wesentlichen Aspekte von Kants theoretischer und praktische Philosophie. Der Text ist in dreißig kurze, im Schnitt 12 bis 15 Druckseiten umfassende Kapitel gegliedert, die thematisch klar begrenzt sind. Dieser Aufbau ermöglicht eine Lektüre, die es erlaubt, sich gezielt und geleitet von den eigenen Interessen mit bestimmten Themen der Philosophie Kants auseinanderzusetzen, ohne der vorgegebenen Anordnung der einzelnen Abschnitte Schritt für Schritt folgen zu müssen. Die einzelnen Kapitel sind bestimmt durch eine ausgewogene und anregende Mischung aus Informationen zum historischen und biographischen Hintergrund, systematischen Erörterungen kantischer Leitbegriffe und exemplarischen Interpretationen jener Schriften Kants, die für diese Begriffe relevant sind.
Bei aller Offenheit der Anordnung ist ein Leitfaden unverkennbar. So werden die Kapitel noch einmal in fünf Teile systematisch gegliedert. Inhaltlich wird dieser Leitfaden bestimmt durch den im Untertitel hervorgehobenen Begriff der Revolution. Im Einleitungskapitel erläutert Willaschek den ursprünglich astronomischen Sinn und Ort des europäischen Revolutionsbegriffs. In seiner in der Tat revolutionären Schrift „De revolutionibus orbium coelestium“ („Über die Umwälzungen der Himmelsphären“) von 1543 hat Nikolaus Kopernikus eine radikale Umkehrung unseres Weltbildes eingeleitet. Mit seiner Schrift „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ von 1755 hat Kant selbst einen eigenständigen Beitrag zu dieser astronomischen Diskussion über die Wende zum heliozentrischen Weltbild geleistet.
Berühmt geworden ist jedoch Kants Übertragung des Motivs der kopernikanischen Wende auf die Erkenntnistheorie, in deren Folge sich menschliches Wissen nicht mehr nach den Dingen, sondern die Dinge nach den Formen menschlichen Erkennens richten. Die Objektivität des Wissens wird so abhängig von den Formen des Wahrnehmens und Begreifens menschlicher Subjektivität. Diese Verschiebung hin zur aktiven und konstitutiven Rolle des menschlichen Subjekts besitzt tiefgreifende Folgen für die praktische Philosophie Kants. Dies zeigt sich schon daran, dass die erkenntnistheoretisch verstandene kopernikanische Wende eingebettet ist in zwei weitere, für Kants Leben bedeutsame Revolutionen. Willaschek macht darauf aufmerksam, dass die durch die erkenntnistheoretische Wende markierte philosophische „Revolution der Denkungsart“ die Folge einer persönlichen „Revolution der Gesinnung“ darstellt. Damit ist ein fundamentaler Wandel der Einstellung gemeint, der aus dem Naturwissenschaftler und Metaphysiker Kant einen Denker macht, der zunehmend an ethischen und politischen Fragen interessiert ist. Die theoretische Wende im „Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt“ (20) ist bereits Ausdruck des vorangegangenen persönlichen Wandels zu einer Gesinnung, die nun das menschliche Subjekt ins Zentrum setzt, sowohl in den Vollzügen seines Erkennens wie des Handelns. Die wachsende zentrale Bedeutung des menschlichen Subjekts artikuliert sich dann in der dritten, explizit politischen Umwälzung des Denkens von Kant, die sich in seiner Begeisterung für die Französische Revolution und die Erklärung der Menschenrechte zeigt.
In einem archäologischen Verfahren werden diese drei Revolutionen in umgekehrter Reihenfolge als Bedeutungsschichten der Philosophie Kants abgetragen. Der erste Teil: „Politik und Geschichte innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (35-82) umfasst vier Kapitel zur politischen Philosophie Kants. Die bleibende und aktuelle Relevanz des politischen Denkens von Kant verdeutlicht Willaschek auf geschickte Weise, denn er beginnt die Darlegung der Philosophie Kants mit dessen Beiträgen zum Thema Krieg und Frieden. Die politische Philosophie Kants zehrt von moralischen Grundüberzeugungen über Würde und Freiheit des menschlichen Subjekts. Diese sind Gegenstand des zweiten Teils des Buches („Die Moral der Vernunft“, 87-144). In diesem Abschnitt werden wichtige moralphilosophische Schriften Kants wie die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ diskutiert und in den zeitgenössischen und philosophiegeschichtlichen Kontext eingeordnet; begriffliche Kernelemente der praktischen Philosophie Kants wie der kategorische Imperativ oder das Prinzip der Autonomie werden gut verständlich und klar rekonstruiert.
Die Frage nach der Einheit von Kants politischer Philosophie und individueller Ethik behandelt der dritte Teil des Buches („Vernunftwesen in Gesellschaft“, 147-206). Hier werden jene Schriften und Diskussionskontexte analysiert, in denen Kant die soziale und intersubjektive Verfasstheit des Menschen thematisiert. Fragen nach der Gerechtigkeit von Eigentumsverhältnissen werden hier ebenso behandelt wie die Begründung einer kosmopolitischen Rechts- und Friedensordnung. Es ist daher nicht übertrieben, „Kant als Theoretiker der Globalisierung“ (173) zu interpretieren.
Wie aber steht es um die Möglichkeit und Erwartbarkeit einer nach moralischen Prinzipien eingerichteten Gesellschaft, die bildhaft als „Reich Gottes auf Erden“ (197) bezeichnet werden kann? Die Frage nach der gesellschaftlichen Verwirklichung der Moral setzt die philosophische Frage nach der vernünftigen Funktion der Religion auf die Agenda. Da Kant die vernünftige Rolle der Religion in ihrem Beitrag zur geschichtlichen Verwirklichung des moralisch Guten sieht, kann sie diese Aufgabe aber nur erfüllen, wenn sie die Prinzipien der autonomen Moral nicht verletzt; religiöse Praxis erscheint philosophisch nur gerechtfertigt in den Grenzen eines moralisch fundierten Vernunftglaubens.
Der vierte Teil des Buches verlagert die Aufmerksamkeit von der Gesellschaft zur Natur als Kontext der Einbettung menschlicher Vernunftwesen („Der Mensch als Teil der Natur“, 209-267). Neben den bereits erwähnten astronomischen und anderen naturwissenschaftlichen Interessen Kants rücken allgemeine naturphilosophische Fragen in den Vordergrund, die im Licht gegenwärtiger Debatten nichts von ihrer Brisanz verloren haben. So ist Kants Beitrag zur Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Tier, vor allem aber seine Überlegungen zur Unterscheidung von Lebewesen und Maschinen, von Belang. Die Einstellung zur Natur baut auch die Brücke zu Kants „Theorie ästhetischer Erfahrung“ (233), die im 18. Kapitel behandelt wird. Denn angesichts der Erfahrung des Naturschönen stellt sich Kant zufolge jenes Gefühl der Erhabenheit ein, das für seine Ästhetik von zentraler Bedeutung ist.
Der fünfte Teil (271-372) führt die vorangegangen inhaltlichen Debatten zurück auf ihren begrifflichen Kern, die kritische Bestimmung von Reichweite und Umfang menschlichen Wissens. Unter dem Titel „Metaphysische Erkenntnis und ihre Grenzen“ werden die Kritiken Kants, vor allem die „Kritik der reinen Vernunft“ und die „Kritik der praktischen Vernunft“, erörtert. Hier zeigt sich noch einmal die Einheit von Erkennen und Handeln in Kants Philosophie. Denn zwischen der kritischen Reflexion der Grenzen der theoretischen wie der praktischen Vernunft besteht ein interner Zusammenhang. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Metaphysik inhaltlich nicht nur auf kosmologische Fragestellungen bezogen wird, sondern auch auf unser praktisches Selbstverhältnis, etwa in Gestalt der Frage nach der Denkbarkeit von Willensfreiheit in einer kausal determinierten physikalischen Natur. Das Verhältnis einer solchen umfassenden philosophischen Interpretation des Menschen zur religiösen Weltdeutung wird in diesem Kontext ausdrücklich thematisiert unter der zugespitzten Fragestellung: „War Kant ein Atheist?“ (359-370).
Ein kurzer Schlussteil („Das Ende“, 373-392) betrachtet nicht nur das Werk des späten Kant, sondern auch die posthume Fortwirkung und Rezeption seiner Philosophie, etwa in Gestalt des Neukantianismus; ebenfalls diskutiert werden Themen und Schwerpunkte der heutigen Kant-Forschung. Die das Buch abschließende Frage: „Warum noch Kant lesen?“ (385) beantwortet es selbst auf beeindruckende Weise. Dieses Buch bietet eine spannende und lohnende Lektüre in sich selbst und es weckt die große Neugier, die Texte von Kant selbst (wieder) zu lesen. Willaschek präsentiert Kant als revolutionären Denker und als Denker der Revolution, der die seit dem 18. Jahrhundert sich vollziehenden tiefgreifenden Umwandlungen in Wissenschaft, Politik und Religion auf den philosophischen Begriff gebracht hat. Die Studie von Marcus Willaschek ragt unter den zahlreichen Veröffentlichungen zum Kant-Jubiläum im Jahre 2024 heraus. Sie zeichnet sich aus durch große Klarheit und gute Lesbarkeit. Dieses Buch kann daher sowohl Kant-Expertinnen und -Experten wie allen, die sich allgemein über Kant und zentrale Themen seiner Philosophie informieren wollen, ausdrücklich empfohlen werden.
München: C.H. Beck Verlag. 2023
430 Seiten m. s/w Abb.
28,00 €
ISBN 978-3-406-80743-5