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Marina Münkler: Anbruch der neuen Zeit. Das dramatische 16. Jahrhundert
Traditionell lässt die europazentrierte historische Forschung die Neuzeit im 16. Jahrhundert, bisweilen sogar gekoppelt an den Thesenanschlag Martin Luthers im Jahr 1517 beginnen. Da dies weder einem Blick in die Weltbelange standhält noch die globalen Einflüsse auf die Dramen in Europa einfängt, geht es Marina Münkler nicht nur um eine Einordnung europäischer Politik in einen größeren Kontext, sondern auch um eine zeitliche Ausdehnung der Epoche, indem sie vom „langen 16. Jahrhundert“ spricht und damit die Zeit zwischen 1453 (Eroberung Konstantinopels) und 1610 (Bedeutungsverlust der Spanier und Portugiesen als Großmächte) meint. Inhaltlich hinterfragt sie in einer terminologischen Analyse die „Leiterzählung einer eurozentrischen Geschichtsschreibung“ (24) und minimiert damit das Gewicht der Reformation und Konfessionalisierung.
Anhand ausgewählter Fokussierungen entwirft sie ein großangelegtes Epochenpanorama mit sachlicher Präzision und einem Blick für das „Neue“ dieser Zeit. Drei für sie maßgebliche „Entdeckungen“ und „Konflikte“ stellt sie in den Vordergrund: die Expansion europäischer Länder in ihnen unbekannte überseeische Gebiete, die Expansion des Osmanischen Reiches Richtung Europa und den innereuropäischen Konflikt zwischen den sich herausbildenden christlichen Konfessionen. Sprachsensibel vermittelt sie, inwiefern etwa die Rede von der „Entdeckung der Neuen Welt“ und der „Türkengefahr“ sprachmächtige Bilder wurden, die bis heute präsent sind, jedoch zunehmend als kolonialistisches Narrativ angefragt werden.
Innovativ an ihrer Studie ist der literatur- und kulturgeschichtliche Ansatz, der sie die Epoche aus den Augen und mit den Sprachbildern der Menschen der Frühen Neuzeit rückverfolgen lässt. Anhand etwa der Reiseberichte der „Entdecker“ der amerikanischen Kontinente deckt sie auf, wie aus der neutralen Bezeichnung der Bewohner einer amerikanischen Inselgruppe, der „caribi“, durch Verknüpfung mit dem Vorwurf, sie seien „Menschenfresser“, „canibi“, als „Can[n]ibali“ Eingang in die europäischen Sprachen fanden. Ähnlich diskursleitend sei die Rede von den „Türken“ gewesen, die Pars pro Toto für das gesamte Osmanische Reich standen und zum europäischen Feindbild schlechthin wurden. Selbst innereuropäisch schuf man durch Sprache neue Tatsachen, indem beispielsweise Martin Luther durch seine Ablehnung des katholischen Heiligenkults aus den Heiligenlegenden „Lügende“ machte und vor allem die sprachliche Macht der Polemik und Satire als Kommunikationsstrategie nutzte, um sein theologisches Programm breiten Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen.
Bei alldem half der neue Buchdruck, denn durch medial vermittelte Sprachbilder wurden nicht selten neue Realitäten geschaffen. Daher ist die Analyse der schriftlichen Dokumente, wie sie hier vorgenommen wird, von ungeheurer Wichtigkeit für die Erkenntnis, auf welche Weise neue Lebensformen und Wissensordnungen in dieser Phase allumfassender Umbrüche entstehen konnten. Besonders spannend ist Münklers Hervorhebung dieses Medienwandels mit Hilfe zahlreicher Quellen. Dieser vollzog sich im „Kampf um Worte, […] um die Beherrschung der Diskurse […] [und] um die Wirkmacht der Bilder“ (16). Nachvollziehbar wird die Textanalyse insbesondere auch durch zwei Einfügungen von zahlreichen farbigen Bilddokumenten inmitten des Buches. Die eingefügten Bilder werden in Münklers Analyse konsequent beschrieben, jedoch ohne Hinweis auf die Bildteile. Es wäre daher zur besseren Orientierung eine Nummerierung der Bilder sinnvoll gewesen, auf die der Text hätte verweisen können.
Alles in allem gelingt es Münkler jedoch ausgezeichnet, die einzelnen Linien welt- und machtpolitischer Konstellationen zu verbinden und so erfrischend unkonventionelle Einblicke in das Denken einer Epoche zu liefern. Dazu gehört, dass neue Begrifflichkeiten wie „Türke“ oder „Kannibale“ sogar eingesetzt wurden, um die Köpfe der Reformation und der katholischen Kirche in einem heftigen verbalen und kriegerischen Schlagabtausch zu verunglimpfen, um nicht zu sagen zu dämonisieren. Auch die „Vorstellung vom ‚kannibalischen‘ Hexensabbat war neu.“ (447) Leider ist die Argumentation zu Reformation und Konfessionalisierung allzu strikt lutherzentriert mit wenigen Ausnahmen. Auch wird die gängige unreflektierte Bezeichnung der Katholiken als „Altgläubige“ dem eigenen Anspruch der Aufdeckung wirkmächtiger Sprachbilder nicht ganz gerecht. Die vermeintliche Neutralität des Begriffes „altgläubig“ ist m. E. ebenfalls überdenkenswert, da es sich um nicht weniger als einen grenzmarkierenden Kampfbegriff der sich selbst so bezeichnenden Katholiken handelte. Dennoch überwiegt der positive Eindruck eines „neuen“ Blicks in die dramatischen Bedingungen einer „neuen“ Zeit, unserer Zeit. Dass dabei heute noch fragwürdig gewordene Begriffe wie „Indianer“ oder „Entdeckung der Neuen Welt“ verwendet werden, sei dabei – so Münkler – nicht durch Anführungszeichen oder gänzliche Auslöschung zu beheben. Und so kommt sie zu dem durchaus zum Nachdenken anregenden und auch gegen eine gewisse Cancel-Culture gerichteten Schluss (allerdings leider versteckt im Anhang): „Geschichte mit ihren Machtverhältnissen, ihren folgenreichen Missverständnissen und Fehlinterpretationen lässt sich auch durch Anführungszeichen weder ungeschehen machen, noch hängt das Bewusstsein dessen allein von sprachlicher Repräsentation ab.“ (526)
Berlin: Rowohlt Berlin Verlag. 2024
539 Seiten m. farb. Abb.
34,00 €
ISBN 978-3-87134-176-2