Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martin Hoffmann: Protestantische Ethik

 

Es herrscht kein Mangel an Lehr- und Handbüchern der evangelischen Ethik. Warum also noch ein neues zur Hand nehmen? Antwort: Weil hier ein Autor schreibt, der in zwei sehr differenten kirchlich-theologischen Milieus und ihren Sprachen zuhause ist und diese Milieus zu einem ungewöhnlichen, ja: eigensinnigen Entwurf zusammenbindet. Der Verfasser, mit einer Arbeit über den lutherischen Theologen Hans-Joachim Iwand promoviert (Bezeugte Versöhnung, 1988), war Gemeindepfarrer und Rektor der (evang.-luth.) Predigerseminare in Bayreuth und Nürnberg. Seit zehn Jahren aber lebt er in Costa Rica und lehrt an der Universidad Bíblica Latinoamericana (San José).

Ganz im Sinne kontextueller Theologien beginnt Hoffmann zunächst in Teil I mit einer Beschreibung der sozial-religiösen Situation in Lateinamerika. Diese Situation bildet den Hintergrund für den Entwurf einer protestantischen Identitätsethik („protestantisch“, weil, zumal im spanischen Sprachraum, das eigentlich richtige „evangelisch“ zu sehr nach „evangelikal“ klingt, wovon Hoffmann sich durchgängig distanziert). Deren Grundgedanke ist: Ethik beginnt nicht bei der Entwicklung eines Normensystems kantischer oder anderer Tradition, sondern mit der Beschreibung eines Lebensentwurfs, eben einer Identität. Deren Muster gewinnt Hoffmann vor allem mit Blick auf Briefe des Apostels Paulus. „Christliches Leben geschieht […] aus ‚neuer Geburt‘, mit neuer Ausrichtung und erneuertem Sinn als Leben im Geist Christi.“ (42) Diese ethische Identität wird grundsätzlich durch Glaube, Liebe und Hoffnung geformt, zu ihren Grundhaltungen gehören mit Blick auf Gal 5,22, die Bergpredigt und andere neutestamentlichen Stellen Langmut, Gewaltlosigkeit und Feindesliebe (57f). In diesem Zusammenhang werden auch der Dekalog und die Eigenart paränetischer Schriftpassagen behandelt. Ein kritisches Licht fällt auf Modelle kognitiver Moralentwicklung, weil sie perfektionistisch und androzentrisch angelegt seien. Demgegenüber gilt, dass ethische Identität narrativ gebildet und tradiert wird, und das nicht nur individuell: „Geschichten stiften Gemeinschaft“. (113) Für explizite ethische Konfliktfälle wird dennoch ein Schema ethischer Urteilsfindung angeboten, das an die Heidelberger sozialethische Tradition (H.-E. Tödt u.a.) anknüpft. Durchaus auch in dieser Tradition wird die Kirche als ethisches Subjekt und Gottes Schalom als ihr Leitbild verstanden. Kurz wird anschließend über theologische und philosophische Ethik informiert. Das Plädoyer für ein trotz der biblischen und kirchlichen Gebundenheit universales Ethos läuft über die Fortentwicklung von Hans Küngs „Projekt Weltethos“ und die Überzeugung, dass der interreligiöse Dialog weiterzubringen sei: Dies findet der Verfasser in einer als allen Religionen gemeinsam behaupteten „kosmischen Spiritualität […]. Sie verteidigt das gute Leben aller Kreaturen“. (183)

Im wesentlich kürzeren Teil II werden einige Felder politischer Ethik abgeschritten. Zu den Thermenbereichen Menschenrechte, Politik, Ökonomie(kritik) und Umwelt werden jeweils allgemeine Informationen geboten und wird nach dem – ggf. kritischen – Beitrag von Texten Martin Luthers gefragt (dazu vom Verfasser: Studienbuch Martin Luther, 2014). So liest er etwa in Sachen Menschenrechte Luthers „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) als frühe Betonung von Gleichheitsrechten. Luthers scharfe Kritik an Auswüchsen des Frühkapitalismus kommt ebenso zu Wort wie zahlreiche Stimmen aus den mittlerweile klassischen Werken der Befreiungstheologie. Diese durchgängig knappen Darlegungen skizzieren Elemente einer „Ethik der Transformation“ hin zu Partizipation aller und Wahrung der Natur (258).

Eine evangelische Ethik mit narrativer Grundlegung hat Wurzeln in der deutschsprachigen Theologie (H.G. Ulrichs u.a.), die auch benannt werden. Gänzlich unausgeleuchtet ist jedoch das Verhältnis zu katholischen Bemühungen in der Sache. Etliches bleibt, vor allem in Teil II, im Status der Andeutung, wozu beiträgt, dass – teils auch bei zitierten Autoren – vielfach aktuelle Literatur fehlt. Der Weg von einer biblisch-theologischen Grundlegung zu den Behauptungen global-interreligiöser Gemeinsamkeiten ist eben doch sehr weit. Eine konzentrierte Grundlegung ohne visionäre Vagheiten hätte das Anliegen überzeugender vertreten lassen.

Ein kritischer Entwurf im transkulturellen Kontext
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2021
272 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-579-07181-7

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