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Martin W. Ramb / Holger Zaborowski (Hg.): Heimat Europa?
Der diesjährige Begleitband zum Kultursommer Rheinland-Pfalz widmet sich der Frage, „inwiefern Europa als Heimat gedacht werden kann und soll“. Über deren Aktualität muss kein Wort verloren werden. Die 35 Autoren des Sammelbandes suchen mit den unterschiedlichsten Zugängen und Stilmitteln nach Antworten darauf. Ihre Perspektiven sind so vielfältig wie ihr persönlicher Hintergrund. Philosophen und Theologen, Sozialwissenschaftler, Schriftsteller, eine Gewerkschafterin, ein Benediktinermönch, ein Erzbischof, ein Kardinal, ein Fernsehkoch und selbst ein Prinz aus der äthiopischen Kaiserfamilie haben aus ihrer jeweiligen Sicht zu diesem Gemeinschaftswerk beigetragen, eine interessante und vielversprechende Zusammenstellung also. Da den Autoren keine bestimmte Definition von Heimat vorgegeben war, konnten sie mit ihren Beiträgen frei nach allen Denkrichtungen hin ausgreifen.
Und schöner hätte der Einstieg nicht sein können als der dichterische Beitrag von Arnold Stadler. Seine lange, teils autobiographische Meditation, die er als Brief an die Herausgeber gerichtet hat, beschreibt mit feinem Gespür die Irritationen des von der Globalisierung bedrängten Menschen, der sich unbehaust und seiner Heimat verlustig fühlt, überrollt vom globalen Kommerz, von Verstädterung und Technisierung, durch die das vertraute Gesicht der unmittelbaren Heimat unkenntlich, weil verwechselbar geworden ist, denn dem Abriss von alten Dorfkernen folgt der Neubau von gesichtslosen „Einfamilienhauswürfeln“. Diese Tendenz zur Nivellierung der regionalen Vielfalt durch Finanz und Wirtschaftsinteressen sei die Folge eines Europas „der Funktionäre und Macher, der Juristen und Utilitaristen“. Er betrauert die Verdrängung der alten, bedächtigen und nachhaltigen Landwirtschaft durch eine schrankenlos profitorientierte Agrarindustrie. Sein sehnsuchtsvoller Blick gilt ganz und gar dem Nahvertrauten: „Heimat ist, wo wir herkommen.“ Nicht Deutsch, sondern das Schwäbisch-Alemannische, nicht Deutschland, sondern „das Land am Bodensee“ bestimmt er als seine Heimat. Und so schließt er: „Europa kann es nur geben als Europa der Vielfalt und Sprachen und Heimaten oder gar nicht.“
Wie eine Klammer umschließen diese Briefmeditation von Stadler und der Schlusstext des Bandes von Herrmann Lübbe die weiteren Beiträge des Buches. Was bei Stadler in schmerzlichen Bildern und leiser Trauer zum Ausdruck kommt, sagt Herrmann Lübbe lapidar und kühl: „Das Wort ‚Heimat‘ kennzeichnet sprachlich Lebensräume der kleineren und herkunftsmitgeprägten Dimension“, daher sei die Leitfrage des Bandes nach einer Heimat Europa negativ zu beantworten, denn „heimatanaloge Verbundenheit ist in einer so strukturierten Zivilisation großräumig weder möglich noch nötig“.
Gut von den Herausgebern orchestriert steht Lübbes Beitrag am Ende des Bandes, sodass die Suche nach einer Beantwortung der Leitfrage offen gehalten wird. Aber tatsächlich ringen fast alle Autoren mit dem Heimatbegriff, um ihn aus dem üblichen Verständnis von Heimat als Nahraum auf das Großgebilde Europa übertragen zu können. Ottfried Höffe versucht es mit einer räumlichen Erweiterung, da der „aufgeklärte Heimatbegriff in seiner Ausdehnung offen“ sei. Der heimatliche Nahraum könne im Sinne konzentrischer Kreise zur geographisch größeren Heimat Europa werden, ohne die Heimat im engeren Sinne dabei abzulösen. Andere Autoren erkennen die Schwierigkeit der von Höffe vorgeschlagenen Ausdehnung des Heimatbegriffs und lösen sie, indem sie Heimat gar nicht mehr als einen bestimmten Raum auffassen. Sie versetzten Heimat stattdessen an einen geistigen Ort der gemeinsamen Werte, Traditionen, religiösen Prägungen, kulturellen Erbschaften und geschichtlichen Erfahrungen. Die Leitfrage des Bandes ließe sich dann besser in der folgenden von den Herausgebern im Vorwort vorgeschlagenen alternativen Form stellen: „Braucht Europa eine Seele und worin könnte diese bestehen?“
In diesem Sinne deutet Holger Zaborowski die Heimat Europa als „ein Netz von Erzählungen, ein Gewebe, ein Text, der verklingt, wenn er nicht mehr neu zur Sprache gebracht wird“ und formuliert den Imperativ: „Handle so (und erzähle solche Geschichten), dass Europa wirklich Heimat werden kann.“ Auch Ilma Rakusa fordert ein solches gemeinsames europäisches Narrativ. Für Barbara Zehnpfennig „ist die Fixierung auf einen heimatlichen Ort nicht zwingend“, wenn Heimat als geistige Heimat verstanden wird. Für Kardinal Ravasi ist das Christentum zusammen mit der religiös inspirierten, „verklärenden Kraft der Kunst“ diese geistige Heimat Europas. István M. Fehér sucht im Anschluss an Husserl die „Geistige Gestalt Europas“. Und Harald Schwaetzer formuliert: „Europäische Heimat ist die Möglichkeit der Vertrautheit mit dem Geiste.“ Für Franziskus von Heeremann ist Menschenwürde als die Heiligkeit jeder einzelnen Person der Leitstern, der eine europäische Heimat stiften kann. Entsprechend muss sich für Stephan van Erp die christliche Identität Europas im Verhalten gegenüber Migranten bewähren. Sie darf nicht als Abgrenzung verstanden werden, da sie in der Gemeinschaft mit Fremden erst wahrhaft zu sich selbst kommt. Und Martin W. Ramb sieht die Notwendigkeit, die in Europa verbreitete Religionsphobie zu überwinden, um die Religion, und zwar religionsübergreifend, als „kulturelle Ressource für ein lebendiges Zusammenleben“ der Bürger Europas begreifen zu können. Christian Schüle schlägt vor, unter Heimat künftig das „geistige Obdach jener Wert- und Normvorstellungen der europäischen Zivilisation“ zu begreifen, „auf deren Grundlage gemeinsame Gewohnheiten formuliert und gemeinsame Ziele verabredet werden“.
Soweit diejenigen, die einen gemeinsamen Geist, ein Narrativ, ein geistiges Obdach, eine geistige Gestalt als europäische Heimat und identitätsstiftende Bindekraft verstehen wollen. Die Sicht anderer Autoren, die betonen, dass die Vielfalt der europäischen Kultur nicht verloren gehen darf, steht damit nicht im Widerspruch, denn sie sehen dabei immer auch die „Vielheit in Einheit“ mit den gemeinsamen Wurzeln und Werten, so etwa Dagmar Schipanski. Ähnlich Eckhard Nordhofen, für den Europa eine „bunte Heimat“ ist mit einem kulturellen Reichtum, der uns auffordert, „Einheit und Vielfalt zusammenzudenken“. Auch nach Dieter Borchmeyer muss verhindert werden, dass die Kulturdifferenzen eingeebnet werden, da es für jeden Menschen notwendig ist, „eine echte, identitätsschützende Heimat zu haben, die Fernwelt zur Nahwelt auszubilden, diese in jener wiederzufinden: ein Europa der Regionen“. Susanne Scharnowski bezweifelt, dass eine europäische Erzählung als „Geisteshaltung oder als moralischer Imperativ“ wirklich Verbundenheit mit Europa erzeugen kann. Auch sie hält es eher für notwendig, dass „EU-Bürger in Europa Heimat bewahren oder finden können.“ Notger Wolf OSB, der ehemalige Abtpräses der weltweiten Ottilianer Benediktinerkongregation, sieht im Zusammenschluss der Benediktinerklöster zur Kongregation, bei der die Selbständigkeit der einzelnen Klöster gewahrt, aber solidarisches Zusammenwirken ermöglicht wird, ein Vorbild für Europa: „Länder, Regionen und Kommunen würden in ihrer Eigenart respektiert. Jeder Bürger hätte seine Heimat lokal, regional und national, aber er könnte sich auch als Bürger einer europäischen Heimat fühlen, heimisch in Europa.“
So konvergieren doch fast alle Beiträge zu einer einheitlichen Sicht: Heimat Europa kann es nur in einem geistigen Sinne, an einem geistigen Ort der gemeinsamen Kultur geben, Heimat im räumlich-konkreten Sinne des vertrauten und bergenden Raumes gibt es nur als Nah- und Umraum, als Region, Stadt und Dorf mit all ihren regionalen Besonderheiten, die es zu bewahren gilt. Heimat im geistigen Sinne überwölbt als gemeinsame Identität, als Seele, die Vielfalt der regionalen Heimaten.
Jan Wetzel und Jutta Allmendinger bestätigen mit den in ihrem Beitrag referierten Ergebnissen einer Studie über „die Lebensvorstellungen, Zukunftswünsche und Zukunftserwartungen der Menschen in Deutschland“ diese eher soziologisch-anthropologischen Betrachtungen. Tatsächlich ist für 88% der Befragten Heimat „ein Ort, an dem man sich geborgen fühlt“. Lediglich für 49% ist Heimat eine „Kultur, die ich mit anderen teile“. „Quer liegt“ dazu, wie die Verfasser formulieren, allerdings, dass auch 45% sagen, Europa sei für sie Heimat. Das stimmt gut mit der überwiegend in den Beiträgen vertretenen Auffassung zusammen, dass geistig-kulturelle Einheit sichtbar gemacht werden sollte, ohne die Vielheit regionaler Besonderheit zu vernachlässigen oder aufzugeben. Bodenständig, wie es sich für eine Gewerkschafterin gehört, bringt Ursula Engelen-Kefer noch den pragmatischen Aspekt ein, dass es zunächst „grundlegender Reformen der rechtlichen, politischen und praktischen Maßnahmen“ bedarf, bevor Europa zur Heimat aller Europäer werden kann.
Diese sachlichen Reflexionen werden durch weitere dichterische und autobiographische Nachdenklichkeiten aufgelockert und illustriert bzw. einfühlend mitvollzogen, so in den Beiträgen von Anna Baar, Gerd Koenen und, für mich besonders schön, in Otto Kallscheuers Hymne an seine „Heimat am Fluss“ zwischen Siebengebirge und Bonn. „Wo für mich Heimat ist?“ fragt er und antwortet: „Ganz klar am Rhein. Am Ufer. Wo man an dem Strom entlanglaufen, seinen Schiffen folgen, die Möwenschreie vernehmen kann.“ Ganz genau, und wie schön, kann ich da nur sagen, denn seine Heimat ist auch meine. Wenn ich von meinem Haus die Straße zum Rhein hinuntergehe, sehe ich es auch: den Drachenfels und die Insel Nonnenwerth im Flusslauf mit all ihren Erzählungen und Mythen. Oh ja, Heimat!
Interessant dann auch der Blick des Migranten (Milad Karimi) und des nach langjährigem Auslandsaufenthalt in die veränderte Heimat Zurückgekehrten (Patrick Roth) sowie des aus der neuen Wahlheimat Kanada auf die alte Heimat Deutschland Zurückblickenden (Jens Zimmermann).
Zwei Höhepunkte sind noch zu vermelden: Ein Interview mit dem zur äthiopischen Kaiserfamilie gehörenden Prinzen Asfa-Wossen Asserate über den Heimatbegriff im Allgemeinen und zum postkolonialen Verhältnis zwischen Europa und Afrika sowie ein wunderbar humorvoller Beitrag vom Fernsehkoch Vincent Klink über seine Kindheit zwischen Linsenmampf mit Spätzle und Ravioli aus der Dose, der uns zeigt, wie sehr Heimat auch verkannt werden kann. Lassen Sie sich überraschen. Doch damit habe ich immer noch nicht alle Beiträge dieses wunderbar an Gedanken und auch an dichterischen Bildern reichen Buches besprochen. Die nicht genannten Beiträger mögen es mir nachsehen.
Als ermutigendes Motto könnte für das ganze Buch folgendes Wort aus dem Beitrag des Erzbischofs Jean-Claude Hollerich stehen: „Heimat ist in Gefahr. Der größte Feind der Heimat ist die Angst, Angst vor der Globalisierung, Angst vor der Armut, Angst…! Freund der Heimat ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, frei und kreativ, zum Wohl der Menschen.“ Es ist höchst spannend, die Suche nach einer „Heimat Europa“ oder auch einer „Seele Europa“ anhand dieses Buches zu verfolgen. Jedem, dem Europa am Herzen liegt und der sorgenvoll die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa verfolgt, sei es zur Lektüre empfohlen.
Göttingen: Wallstein Verlag. 2019
431 Seiten
22,00 €
ISBN: 978-3-8353-3475-5