Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Blume: Rückzug oder Kreuzzug?

 

Banken- und Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Coronakrise, Ukraine- und Energiekrise. Die Welt befindet sich seit Jahren nahezu konstant im Krisenmodus. Die Zukunftsperspektiven sind bestenfalls unklar, häufig apokalyptisch. Auch das Christentum ist in der Krise – zumindest in Deutschland und Europa, ganz zu schweigen von der katholischen Kirche, die jedes Jahr Tausende ihrer Mitglieder verliert und nur wenige hinzugewinnt.

Quo vadis, Christentum?, fragt deshalb Michael Blume, Religions- und Politikwissenschaftler und Beauftragter gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg. In seinem neuesten Buch, das der Vertrauenskrise des Christentums gewidmet ist, dabei aber die vielen Krisen der Gegenwart nicht unberücksichtigt lässt, entwickelt Blume eine Prognose zur Zukunft der größten Weltreligion und schließt damit seine Religionstrilogie ab, in der er sich zunächst mit dem Islam und dann mit dem Antisemitismus befasst hatte. Aber auch seine Überlegungen zu Verschwörungsmythen, publiziert ebenfalls in einem eigenen Band, spielen in das schmale Buch hinein, das mit einer nützlichen Zusammenstellung von Personen- und Sacherklärungen abschließt, die es Blume ermöglicht, sich ganz auf die Entwicklung seiner Argumentation zu konzentrieren, statt sich in Definitionsfragen zu verlieren. Diese Argumentation, die in die abschließende Prognose mündet, ist durch einen Zweischritt gekennzeichnet: Auf den einleitenden pointierten Situationsbefund folgt in vier Hauptkapiteln eine (religions-)geschichtlich weit bis in die Anfänge der Schrift ausgreifende und dennoch bis aufs Äußerste verdichtete „Umkreisung“ des Themas: ein Rückblick im Dienst des Ausblicks. Methodisch zeigt sich Blume besonders von Hans Blumenberg inspiriert, neben Karl Popper und Marshall McLuhan sein Hauptgewährsmann.

Ausgangspunkt von Blumes Argumentation ist die These, dass mit dem Zusammenbruch der uns bekannten Welt eine Transformation von Mythologien, Überzeugungen, Religionen und nicht zuletzt der Kirchen verbunden sei. An die Stelle des von ihnen angebotenen und gesicherten Zukunftsvertrauens sei, bedingt durch Digitalisierung und Klimakrise, eine regelrechte Angst vor der Zukunft getreten – eine Angst, die sich den bewährten Bewältigungsstrategien entziehe und neue Formen der Rationalisierung erfordere. Für hilfreich hält Blume in diesem Zusammenhang die Philosophie, die er mit Blumenberg als „Disziplin der Aufmerksamkeit“ versteht (13). In einer Welt digital beschleunigter Wahrnehmungsprozesse gelte es, die „Intensität des Hinschauens“ (14) einzuüben, und das heißt: die Phänomene von allen Seiten zu beschreiben, sodass die Panik beherrschbar werde und sich Wege aus der Krise zeigten. Diese Intensität des Hinschauens begreift Blume als Antidoton gegen die beiden hauptsächlichen Gefahren, denen das Christentum – und nicht nur es allein – heute ausgeliefert ist. Sie werden bereits im Titel des Buches einander gegenübergestellt: Rückzug oder Kreuzzug. Der Mensch im Rückzug, auf den Blume in seinem Buch aber nur am Rande eingeht, verweigert sich der Komplexität der Phänomene, indem er sich in den privaten Schutzraum eines Neo-Biedermeier zurückzieht und nichts mehr von der chaotischen Welt da draußen wissen will. Der Mensch auf dem Kreuzzug dagegen löst die Komplexität der Welt auf, indem er die Phänomene in Gut und Böse unterteilt und die jeweilige Gegenseite aggressiv verfolgt. Auf einen solchen „pathologischen Dualismus“ führt Blume sämtliche Formen des religiösen, säkularen und gewalttätigen Extremismus zurück, die er, Huntingtons These vom Kampf der Kulturen zurückweisend, überall auf der Erde erkennt, nicht selten innerhalb ein und desselben Landes.

Der vorverurteilende Dualismus, entfesselt besonders in den sozialen Medien, ist für Blume Nährboden und Motor für Verschwörungserzählungen aller Art, mit denen sich der Mensch – und hier greift er auf Popper zurück – der „Last der persönlichen Verantwortung“ entziehe. Als Gefahr wohnt er selbst seinem Gegenprinzip, dem Monismus, inne, der, durch mediale Umbrüche wie Buchdruck, Radio, Film und Digitalisierung begünstigt, in Historizismus umzuschlagen drohe. Dieser Gefahr könnten aufgeklärte Kirchen-, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften entgegenwirken, indem sie sich – im Sinne von Poppers „offener Gesellschaft“ – von „dualistische[n] Kampfgemeinschaften“ in „einander unterstützende und soziale Arbeit leistende Netzwerke von Weggefährtinnen und Weggefährten, ja Pilgerinnen und Pilgern“ verwandeln (43). Blume verknüpft die Zukunft des Christentums insofern mit der anderer Religionen – in der Überzeugung, dass sie alle gleichermaßen am Scheideweg stünden und die Krisen nur gemeinsam überstehen könnten. Da aber jede Religion seiner Ansicht nach eine eigene interdisziplinäre Betrachtungsweise verdient, nimmt Blume die (Vor-)Geschichte des Christentums gesondert in den Blick, freilich „inklusiv“, in enger Bezugnahme auf andere Weltanschauungen und Religionen, vor allem das Judentum, und interdisziplinär: religionsgeschichtlich und -geografisch, kunsthistorisch und medienpsychologisch.

Diese Kapitel sind die problematischsten des Buches, da sie die Argumentation kaum voranbringen und – auch und gerade wegen ihres beschränkten Umfangs – jede Menge Fragen aufwerfen. Die These, dass das vokalisierte griechische Alphabet mehr und mehr Menschen eine individuelle Leseerfahrung gestattet habe, ist z.B. mit Blick auf die geringen Alphabetisierungsraten in Antike und Mittelalter und die jahrhundertelange Praxis des gemeinsamen, lauten Lesens zu differenzieren. Dass hinter der „Freude am schnellen Lesen“ und der „Faszination möglichst kristallklarer Gedanken“, die die japhetitischen Alphabete vermitteln, bereits der Dualismus lauere, scheint empirisch kaum belegbar und geistesgeschichtlich heikel. Für die angestrebte Prognose fallen aus diesen Umkreisungen kaum Erkenntnisse ab – außer derjenigen, dass das Christentum Krisen schon immer produktiv bewältigt hat. Es ist auch nicht klar, warum es für Blumes Argumentation unbedingt notwendig ist, herauszuarbeiten, warum Jesus im Kleinstaat Israel und nicht im größeren China aufgetreten ist. Dieser Einwand gilt noch stärker für das (an sich durchaus lesenswerte) Kapitel über Jeschua Christus, in dem Blume die einstige Diskussion um Liebermanns „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ im Spannungsfeld zwischen askenasischen Juden und deutschsprachigen Christen nachzeichnet und sich z.T. in marginalen Details verliert (wie z.B. Prinz Luitpolds Begegnung mit den Eltern Liebermanns).

Etwas überzeugender, wenngleich nicht durchgängig, fällt die abschließende Prognose aus. Blume überwindet die Polarität der beiden angedeuteten Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, die er jetzt mit den Begriffen der monistischen Säkularisierung und dualistischen Radikalisierung fasst, zugunsten eines dritten Weges und stellt den Sieg des Kulturchristentums in Aussicht. Der Begriff bleibt allerdings schillernd. Christen, schreibt Blum, werden Star Wars und Harry Potter genießen, dabei aber im Gegensatz zu ihren Mitmenschen um die mehr oder weniger offensichtlichen Übernahmen christlicher Mythen oder Erzählungen wissen. Sie werden sich zudem auf ihre semitischen Wurzeln besinnen – auch auf die Interreligiosität des Noah-Bundes. Während Letzteres gewiss eine lebensbedeutsame kulturelle Kraft entfalten kann, ist Ersteres schon heute für viele Christen irrelevant und wird es auch in Zukunft sein.

Ähnlich zwiespältig zu bewerten ist Blumes Prognose, dass sich künftig regionale, monistische und multireligiöse „Archen“ entwickeln werden, die sich gegenüber den aussterbenden Religionen behaupten können. Zumindest angesichts der (trotz aller interreligiösen Bemühungen) noch immer existierenden Vorbehalte zwischen Christen, Juden und Muslimen und auch religiös motivierter Nationalismen wie in Polen und Italien erscheinen multireligiöse Archen bisher nicht allzu wahrscheinlich, zumindest nicht flächendeckend. Überhaupt geht es Blume mehr um die Gemeinsamkeiten als um die Unterschiede zwischen den Religionen, und dabei verlässt ihn punktuell der Wille zur Intensität des Hinschauens (Noah-Bund, Judentum, andere Religionen und Weltanschauungen und die Kreuzigung Jesu als „authentische Anrufe“, der Verantwortung vor Gott gerecht zu werden).

Zu Recht hebt Blume allerdings die Bedeutung der neuen digitalen und virtuellen Formen kirchlicher Verkündigung hervor, wobei er m. E. umgekehrt die Bedeutung der digitalfreien Zeit als künftiges Unterscheidungskriterium monistischer Kirchengemeinden von ihrer Umwelt überschätzt. Doch auch das ist nur eine Gegenprognose, deren Richtigkeit oder Falschheit die Zukunft erweisen wird, eine Zukunft, in der die Krisen – so ist mit Blume zu hoffen – ihr schöpferisches, nicht ihr zerstörerisches Potential entfalten mögen.

Die Krise des Christentums und die Gefahr des Fundamentalismus
Ostfildern: Patmos Verlag. 2022
157 Seiten
19,00

ISBN 978-3-8436-1332-3

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