Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Felten: „Schwierige“ Schüler

„Schwierige“ Schülerinnen und Schüler gibt es in allen Schulformen und Jahrgangsstufen. Möglicherweise hat ihre Zahl zugenommen und hängt dies mit einer stärkeren Verunsicherung von Eltern zusammen. Wer pädagogisch arbeitet und denkt, weiß: Patentlösungen gibt es nicht. Vermeintlich schnell wirksame „Rezepte“ wirken allenfalls kurzfristig durch Druck, lösen aber selten ein Problem dauerhaft.

Das vorliegende kleine Bändchen in der Reihe „Bildung und Unterricht“ des Reclam-Verlages räumt von vornherein ein, keine Patentrezepte zu haben. Außerdem beteiligt es sich ausdrücklich nicht an der schulpolitischen Diskussion über Rahmenbedingungen, personelle Ausstattung, Klassengrößen etc. Das Augenmerk liegt schlicht auf der Frage: Was kann eine einzelne Lehrkraft (oder vielleicht auch zwei, die in derselben Klasse unterrichten) erreichen? Ein Zitat mag den Ansatz verdeutlichen: „Bei der Analyse größerer Lernschwierigkeiten und Verhaltensprobleme werden systemische Aspekte von Schule regelmäßig überschätzt. Tatsächlich haben solche Kinder entweder akute Beziehungsprobleme in Familie oder Peergroup – oder sie haben in den ersten Lebensjahren ein irrtümliches Selbstbild samt ungünstiger innerer Zielsetzung entwickelt …“ (66)

Der Autor Michael Felten ist Gymnasiallehrer im Ruhestand, Lehrbeauftragter und Referent in der Lehrerweiterbildung sowie Verfasser von Unterrichtsmaterialien und schulpädagogischen Fachbüchern. Er hat für den vorliegenden Band zahlreiche Fallbeschreibungen aus der Fachliteratur zusammengetragen und stellt die einzelnen Beispiele als „typische“ Fälle vor. Schnell wird klar, dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen Beispielen aus den 1960er Jahren und aus der Gegenwart gibt. Schnell wird auch klar: Lehrkräfte arbeiten nicht therapeutisch, sondern pädagogisch. Ihr Augenmerk liegt nicht auf der biografischen Vergangenheit eines Kindes, sondern auf der Gegenwart und Zukunft im Kontext des schulischen Settings. Ausgehend vom Konzept der Individualpsychologie nach Alfred Adler (1870-1937, österreichischer Arzt und Psychotherapeut) und durch viele aussagekräftige Zitate unterstützt, stellt Felten seinen Ansatz einer tiefenpädagogischen „Störungskompetenz“ vor: Wo es gelingt, ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen, werden positive Veränderungen möglich. Für ein solches Verhältnis braucht es Einfühlung in die Situation eines Kindes oder Jugendlichen, gerade auch in das Selbstbild und die inneren Zielsetzungen, es braucht ehrliche und wertschätzende Rückmeldung zum Verhalten und den schulischen Leistungen, und es braucht individuelle Angebote zur konstruktiven Zusammenarbeit. Dadurch werden kaum alle Probleme gelöst, aber es kann zu positiven Veränderungen führen, die die weitere Schullaufbahn eines Kindes oder Jugendlichen nachhaltig unkomplizierter machen.

Felten reflektiert ebenfalls, welche Rolle die Klassengemeinschaft als „heilsamer Ort“ bei der Unterstützung Einzelner spielen kann. Er stellt verschiedene Formen der Kooperation, wie z.B. den Klassenrat, vor. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der Rolle von Eltern und der Frage, ob und wie diese als Mitspieler gewonnen werden können.

Das Buch von Michael Felten will ausdrücklich Mut machen – Mut, mit einem einzelnen „schwierigen“ Schüler oder einer „schwierigen“ Schülerin anzufangen, sich auf eine konstruktive Auseinandersetzung einzulassen und sich ggf. Mitstreiter zu suchen. Es will Mut machen, einmal aus einem Machtkampf auszusteigen und die eigene Energie in die Frage umzuleiten: Welches Spiel spielen wir hier eigentlich – und wie komme ich da heraus? Patentlösungen und Erfolgsgarantien gibt es wie gesagt nicht, auch keine Checklisten oder Planungsraster. Für schnelle Instruktion ist das Buch insofern nicht geeignet. Eher könnte es eine gute (gemeinsame) Grundlage sein z.B. für Lehrkräfte, die sich regelmäßig zur kollegialen Fallberatung oder zur Supervision treffen. Hier finden sie das Orientierungswissen, das Handwerkszeug und vor allem die pädagogische Haltung, auf die es bei der Arbeit mit „schwierigen“ Schülern ankommt.

Wer sie versteht, kann ihnen helfen
Bildung und Unterricht
Stuttgart: Reclam Verlag. 2023
120 Seiten
6,80 €
ISBN 978-3-15-014361-2

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