Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Kühnlein (Hg.): Religionsphilosophie und Religionskritik

 

Die aufklärerischen Vormärz-Aktivisten des 19. Jahrhunderts Feuerbach (1841) und Marx (1844) hatten Religion entweder als atavistisches Wunschdenken oder heimtückisches Unterdrückungssystem gegenüber ökonomisch Ausgebeuteten entlarvt bzw. für tot erklärt. Das 20. Jahrhundert war dann weniger vom Materialismus als von der Psychologie begeistert und pathologisierte mit Freud (1927) religiöses Bewusstsein als illusionäre unbewältigte Kindheitsneurose; unser gegenwärtiges naturalistisches Säkulum schließlich sieht in biologistischer Prävalenz Religion als evolutiv überflüssig, ja als peinlich-wahnhafte Beleidigung der Menschenwürde (Dawkins, 2006) an.

Doch Totgesagte leben länger! Dies zumindest zeigt Michael Kühnleins überwältigend material- und gedankenreiches „Handbuch“ (ein extrem bescheidenes Gattungslabel angesichts eines solchen Opus Magnum mit fast 1000 Seiten!) höchst anschaulich in Blick auf das systematisch miteinander verflochtene Begriffspaar von Religionsphilosophie und -kritik in zeitlich-chronologischer und inhaltlicher Dimension. Erstens zeigt nämlich der zeitliche Längsschnitt der achtzig (!) von 52 Fachleuten dargestellten Positionen zum Thema – vom vierten vorchristlichen Jahrhundert (Platon, geb. 428 v.Chr.) bis in unsere unmittelbare Gegenwart (Charles Taylor, geb. 1931) – die ungebrochene Dringlichkeit des philosophischen Nachdenkens über die Licht- und Schattenseiten des Phänomens Religion über die Jahrtausende hinweg: Wer jenem vorschnell den Totenschein ausstellen wollte, wie dies sogenannte „Eliten“ in gewissen mitteleuropäischen und nordamerikanischen Regionen tun, übersieht die breite existentielle Überzeugungskraft des Transzendenten, die sich in einer weltweit wachsenden Zahl von gläubigen Menschen dokumentiert, und hat wohl eurozentrische Scheuklappen auf den Augen, wodurch die gedeihliche Integration zunehmend global zusammenrückender Völker und Kulturen kaum gelingen wird. Auch der Sachbefund, dass fast 50 der 80 religionsphilosophischen Positionen dem 20./21.Jahrhundert entstammen, belegt seismografisch die Vitalität der Diskussion und konterkariert das berühmt-berüchtigte Diktum des Trierer Meisterdenkers, es „sei die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt.“

Zweitens zeigt der inhaltliche Verlauf der aktuellen Diskussion, dass besonders für die neuere Generation der Religionsphilosophen (nicht kirchlich gebundener Theologen!) das lange Zeit nicht weiter hinterfragte Grunddogma der Religionskritik, die sogenannte „Säkularisierungsthese“, seine privilegierte Totalgeltung als eine Signatur der Moderne verloren hat. Jene landauf, landab verbreitete Annahme vermittelte ja, kurz gefasst, die quasi selbstverständliche Botschaft: Die fortschreitende, nicht aufzuhaltende Modernisierung unserer Gesellschaften führt in Bälde und auf Dauer zum Verschwinden des Glaubens – zumindest aus der staatlich-zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit oder gar gänzlich von der Bildfläche. Die Historie z.B. des europäischen Christentums wurde als fortwährende Subtraktions-Geschichte buchstabiert. Einer solchen behaupteten Teleologie gegenüber möchten viele neuere Religionsphilosophien einer „post-säkularen Gesellschaft“ (Habermas) das Narrativ der Säkularisierungsthese neu erzählen – und dies so, dass die Genese der Moderne kritischer gefasst wird: Der Säkularismus ist mit seinen Urteilen wie jede menschlich-vernünftige Existenz nie standpunkt-ungebunden, hat nie den neutralen (göttlichen?) „View from Nowhere“ (Th. Nagel), sondern ist nur eine von mehreren Optionen, von denen die religiöse auch eine ist. Die entzaubernde Säkularisationsthese wird gewissermaßen selbst entzaubert. Und vielleicht bietet die Glaubensperspektive sogar „religiös Unmusikalischen“ (Max Weber) überschüssige Potentiale, die noch gebraucht werden, man denke hier an „transzendenzoffene“ (Kühnlein) Aspekte wie: Schuld, Vergebung, Versöhnung, Erlösung …

Die diachrone Perlenkette der dargestellten 80 Positionen ist – so der strukturelle Aufbau des „Handbuchs“ – jeweils nach einem gleichen Format dargestellt: Das Gliederungsmuster beginnt mit einer kurzen Biografie des Philosophen, sodann folgen philosophiegeschichtliche/gesellschaftliche Kontexte, anschließend richtet sich der quantitative und inhaltliche Fokus auf das zentrale einschlägige Werk des jeweiligen Autors; des Weiteren wird von jenem Rezeption und Kritik dargelegt, schließlich eine abrundende Schlusszusammenfassung der Position und am Ende werden der Leserschaft jeweils Quellen- und Literaturangaben präsentiert.

Kühnlein gesteht selbstkritisch die unvermeidliche Subjektivität der Auswahl ein, gibt jedoch zugleich seine nachvollziehbaren Selektions-Kriterien an, z.B.: Prominenz der Autorenschaft, Relevanz des betreffenden Werkes, seine Präsenz im akademischen Seminarbetrieb und in der einschlägigen Forschungsliteratur. (Wenn Kühnlein in der Einleitung in diesem Kontext darauf verweist, dass Karl Kardinal Lehmann ihn bei der Konzeption dieses großen Werkes „vor manchen Holzwegen bewahrt“ habe, spricht dies übrigens für eine höchst löbliche Bescheidenheit im Sinne einer Docta ignorantia.) So könnten die Lesenden natürlich immer wieder an vielen Stellen kanonbezogen fragen: Warum firmieren für die vorchristliche Antike ausgerechnet Platon, Aristoteles und nicht noch Epikur, warum fürs Mittelalter z.B. Anselm, der Aquinat und nicht Abälard, warum für die Aufklärungszeit der Alleszermalmer aus Königsberg und nicht auch Lessing, warum für die Gegenwart etwa Spaemann und nicht Guardini usw., usw… Mit Lob muss bei der Auswahl, über die sich natürlich trefflich streiten lässt, jedenfalls – obwohl der Löwenanteil der Positionen eurozentrisch und christlich-abendländisch geprägt ist – festgehalten werden, dass eine ganze Reihe von Philosophen mit jüdischem (z.B. Maimonides, Spinoza, H. Cohen, F. Rosenzweig, M. Buber, E. Bloch, E. Levinas) und islamischem (Hamid al-Ghazali, Averroes) Hintergrund zu Wort kommen, ebenso die Stimmen philosophisch ambitionierter Frauen wie Simone Weil und Edith Stein.

Wünschenswert wäre, wenn abschließend Desiderata angesprochen werden sollen, ein Sachregister, das dem ratsuchenden Leser stichwortartig zu den einzelnen Autoren mit ihren Schwerpunktthemen und Verbindungen zwischen diesen Auskunft gibt. Weiterhin wäre der zunächst hier vorliegende primär eurozentrische Blick auf das religionsphilosophische und -kritische Nachdenken in weitere Regionen unseres Erdkreises auszuweiten. Neben dieser räumlichen Intensivierung wäre in einem Aspekt in der zeitlichen Dimension ein weiterer verschärfter Blick interessant: In diachroner Zeitperspektive durch die Jahrhunderte von der Antike bis zur Gegenwart sind die 80 Autoren/Positionen über die Zeitläufe hinweg recht gleichmäßig verteilt; einzig zwischen Patristik (Augustinus, geb. 354) und Scholastik (Anselm, gest. 1109) klafft eine (religions-)philosophische Lücke von ca. 800 Jahren. Gab es tatsächlich über acht Jahrhunderte hinweg nur denkerische Flaute oder könnte das Potential kreativer Köpfe wie z.B. eines Pseudo-Dionys Areopagita (6. Jh: eine Negative Theologie angesichts der Unsagbarkeit Gottes) oder Johannes Scotus Eriugena (geb. 810: Vernunft-Vorrang vor der Offenbarungsautorität) einen Brückenschlag über die auffällige religionsphilosophische Durststrecke darstellen? Das wären bereichernde Herausforderungen für eine Neuauflage, denn genau diese ist dem beeindruckenden „Handbuch“ herzlich zu wünschen, auf dass es auf lange Zeit als Standardwerk – und nun folgt die klassische Schlusswendung vieler Beifall zollender Rezensionen – gedankenanregend und horizonterweiternd in die Hand von möglichst vielen Religionslehrerinnen und -lehrern gelangen werde.

Ein Handbuch
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2018
946 Seiten
36,00 €
ISBN 978-3-518-29740-7

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