Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Quante: Der unversöhnte Marx

Bei der Fülle der Marx-Publikationen, die anlässlich des 200. Geburtstages des Trierer Philosophen auf den Markt kamen, konnte man diesen schmalen, aber inhaltlich gehaltvollen Essay-Band leicht übersehen. Umso verdienstvoller ist es, dass sich der Verlag nun zu dieser gründlich überarbeiteten Auflage entschloss. Der Münsteraner Philosoph Michael Quante setzt bei seinen Lesern allerdings einiges an Kenntnis voraus. Für diese Zielgruppe der „Kenner“ aber bietet er eine Lesart an, die Marx‘ bleibende Aktualität weit über die oberflächlichen Aktualisierungen hinaus begründet. Im einleitenden langen Essay „Die Philosophie des Karl Marx“ entfaltet der Autor seine beiden Hauptthesen. Die übrigen Kapitel des Bandes beleuchten diese nochmal von einer besonderen Perspektive her.

Der Kern des Marxʼschen Werkes, so Quante, ist ein philosophischer, näherhin eine Ethik der Anerkennung, wie er sie zum ersten Mal in den „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ – auch als „Pariser Manuskripte“ bekannt – im Jahr 1844 formuliert. In diesem Werk, das erst lange nach Marx‘ Tod, nämlich in den 1930er Jahren, zunächst auf Russisch erschien und damals eine scharfe Kontroverse über die Marx-Rezeption auslöste, entfaltet Marx seinen Begriff der Entfremdung. Vor allem im Anschluss an die darin enthaltenen Mill-Exzerpte legt Quante seine Grundthese dar – und es gelingt ihm überzeugend, diese Theorie der Anerkennung als Moment der Kontinuität bis hin zur Spätschrift „Kritik des Gothaer Programms“ aufzuweisen. Mit der Herausarbeitung dieser philosophischen Essenz von Marxʼ kritischer Gesellschaftstheorie bezieht Quante in zweifacher Hinsicht eine kritische Position: einmal gegen die ökonomistische Reduktion auf den Krisentheoretiker Marx, und zum anderen gegen die orthodoxe Lesart, die ihre Wurzeln bereits in Engelsʼ „Anti-Dühring“ hat und aus Marxʼ kritischer Gesellschaftstheorie ein fragwürdiges dogmatisches Lehrgebäude machte.

Die zweite Grundthese des Autors, nämlich die der Kontinuität zentraler Denkmotive, wirft m. E. doch Rückfragen auf. Einerseits gelingt es Quante gerade mit seiner Interpretation von Marxʼ Hauptwerk, „Das Kapital“, zu zeigen, wie unausgesprochen die Ethik der Anerkennung den Hintergrund bildet. Richtig erkennt er, dass die Originalität der Analyse des Kapitalismus gerade in dessen Charakterisierung als Fetischismus besteht, das heißt als ein Verhältnis der Verkehrung von Subjekt und Objekt, in dem der Verwertungsprozess des Kapitals sachliche Gewalt über seine Protagonisten gewinnt. Gerade dieses zentrale Denkmotiv des Fetischismus, das die Marxʼschen Schriften durchzieht (in den „Pariser Manuskripten“ noch nicht so bezeichnet, aber sachlich vorhanden), wurde lange unterbewertet, ja sogar als „unwissenschaftlich“ abgetan, wie etwa in der strukturalistischen Marx-Deutung Louis Althussers. Quante gelingt damit eine überzeugende Interpretation des in literarischer Hinsicht äußerst heterogenen Werks.

Allerdings gelingt es ihm weniger überzeugend, die Übernahme der Hegelʼschen Dialektik für die Ebene der „Darstellung“ plausibel zu machen. Warum, so fragt man sich als Leser, hat Quante hier nicht auf das berühmte Methodenkapitel aus Marxʼ „Grundrissen“, den Vorstudien zum „Kapital“, zurückgegriffen? Die Übernahme von Hegels Dialektik, die ja ausgehend vom zirkulären Charakter von Kants Erkenntnistheorie eine Subjekt-Objekt-Dialektik ist, bedarf ja, löst man sie aus ihrem ursprünglichen Kontext der idealistischen Philosophie Hegels, einer eigenen Begründung. Eine solche liefert Marx sehr wohl in den „Grundrissen“: Hegels Methode des Abstiegs vom Abstrakten zum Konkreten ist dem Gegenstand, der Analyse des Kapitals, deshalb angemessen, weil hier die Abstraktion Realität geworden ist! Im Gegensatz zu Engels, der später aus der Dialektik eine primitive Zauberformel für die Durchdringung aller Wirklichkeit machte, beschränkt Marx die Übernahme von Hegels Dialektik auf genau diesen Gegenstand.

Die m. E. grundsätzlich zutreffende These von der Kontinuität zentraler Denkmotive wäre allerdings plausibler, wenn Quante die Brüche und Diskontinuitäten in Marxʼ Denken ebenso deutlich herausgestellt hätte. Im historischen Materialismus, wie er zum ersten Mal in der „Deutschen Ideologie“ entfaltet und noch im Spätwerk affirmiert wird, sehe ich etwa neben der Fetischismusanalyse ein weiteres Moment der wesentlichen Kontinuität, das aber völlig unabhängig von seiner Anthropologie der Anerkennung und darauf nicht rückführbar ist. Jedenfalls liefert Quante mit seiner philosophischen Marx-Interpretation einen erfrischenden Kontrast zu all den kurzschlüssigen Aktualisierungen.

Die Welt im Aufruhr
Paderborn: Brill / Mentis Verlag. 2., überarbeitete und durch ein Nachwort ergänzte Auflage. 2022
121 Seiten
17,90 €
ISBN 978-395743-259-9

Zurück