Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Mouhanad Khorchide: Ein Muslim auf dem Jakobsweg

Mouhanad Khorchide berichtet von seiner staunenswerten Reise auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Überrascht die Leserschaft heute, dass ein gläubiger Muslim dorthin aufbricht? Der Theologe, in Osnabrück als Professor für Islamische Religionspädagogik tätig, sammelt Erfahrungen, die gläubige Menschen religionsübergreifend verbinden. Eine solche Pilgerfahrt ist zugleich ein Aufbruch in die Fremde, mitunter sogar ein existenzielles Wagnis, so dass Khorchide vor Beginn der Reise seiner Mutter versichert, dass er Muslim bleiben werde.

Der Theologe sucht nach Berührungspunkten zwischen den Religionen und weiß sogar die Trinität in ein islamisches Verständnis behutsam einzubetten. Er versteht die Dreifaltigkeit als einen „symbolischen Ausdruck der Vielfalt Gottes“, denn Gott sei ein „Beziehungswesen“; so vermag er die „innere Beziehung in sich selbst“ des dreifaltigen Gottes als Andersgläubiger zu verstehen. Khorchide sieht also „absolut keinen Grund, warum ich ein christliches Gebet nicht mitsprechen sollte“. Anders als auf der Pilgerfahrt nach Mekka sei beim Weg nach Santiago in erster Linie nicht das Apostelgrab, sondern der Weg selbst das Ziel: „Jeder Mensch gestaltet dabei seine eigene, ganz individuelle Art, den Weg zu bestreiten.“

Auf dem Fußmarsch herrscht eine ungewohnte, zunächst kaum auszuhaltende Stille, an die sich der Pilger gewöhnen muss. Er geht, er bewegt sich, doch zunächst begegnet er niemandem, nur einer hungrigen Katze. Später trifft Khorchide viele Personen, in deren Leben Religion überhaupt nicht wichtig zu sein scheint, die aber „authentische Antworten“ auf die „großen Sinnfragen“ zu suchen und manchmal auch für sich zu finden scheinen. Der Theologe beschließt, dass er „endlich mit dem Denken aufhören“ müsse – mehr als einmal, um sich den Erfahrungen, Begegnungen und Eindrücken ganz zu öffnen. Der muslimisch gläubige Pilger auf dem Jakobsweg tut dies stets im Vertrauen darauf, sich „von Gott angenommen zu wissen und entsprechend zu handeln“.

Auf dem Weg nach Santiago entdeckt er die christliche Perspektive auf die Selbstliebe. Auf die Frage nach einer Begründung hierfür antwortet eine persisch-amerikanische Pilgerin: „Liebe braucht kein Warum.“ Für Khorchide liegt hierin eine Denkmöglichkeit, die monotheistische Religionen verbinden kann, denn die „bedingungslose Bejahung der Existenz“ könnte der „eigentliche Sinn unseres Daseins“ sein: „Können wir mit anderen Worten sagen, dass Liebe den höchsten Sinn menschlichen Lebens darstellt? Liebe ist das Woraufhin der Existenz. Dass manche gläubige Menschen Liebe mit Gott gleichsetzen, ist nicht der zentrale Punkt. Wichtig ist nur, dass diese Kategorie der Liebe als gemeinsamer Sinn existiert.“

Dennoch möchte Khorchide, weiter auf dem Pilgerweg sinnierend und sich mit Weggefährten austauschend, nicht auf Religion verzichten. Die Religion erinnere den Menschen an seine Aufgabe, die „Hand der Liebe Gottes hier in der Welt zu sein“. Er schreibt weiter: „Der Jakobsweg ist eine Reise nach innen, eine Reise in die Vergangenheit der eigenen Biografie mit dem Ziel, die Zukunft neu zu schreiben.“ Das „bewusste Streben der Pilger“ bestehe darin, das „Ruder der eigenen Geschichte des eigenen Lebens“ selbst in die Hand zu nehmen. Ob diese Wahrnehmung ausreicht? Vielleicht ist die Absicht gegeben, eine solche Klarheit über sich und den Weg des eigenen Lebens zu gewinnen. Die Erfahrung indessen, dass bei dieser Suche Gott auf die ihm eigene Weise zum Wegbegleiter wird und dass auf dem Jakobsweg besondere Erfahrungen hinzutreten, die gewissermaßen Schritte über die konkrete Pilgerreise hinaus sein können, fällt aus. Khorchide schreibt, dass die beständige Aufgabe eines jeden Menschen darin liege, das eigene Leben gut zu führen und einen solchen tragfähigen Sinn zu stiften: „Ob dies auf dem Weg nach Mekka, auf dem Jakobsweg oder in den eigenen vier Wänden geschieht, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass wir Pilger bleiben.“

Doch genügt das? Fragen bleiben offen: Könnte es nicht möglich sein, dass wir den Sinn nicht selbst stiften, sondern erkennen und annehmen, nämlich dass nicht unser Wollen diese Sinnhaftigkeit begründet, sondern die Einfügung in den Willen Gottes? Wer pilgert, öffnet sich für Erfahrungen, die über bloße Selbstverwirklichung hinausreichen. Pilgerfahrten können Vertiefungen im Glauben schenken, und dies auch jenen, die gar nicht damit rechnen.

Mouhanad Khorchide hat ein lesenswertes, wenngleich vorwiegend säkular orientiertes Buch vorgelegt, das Beachtung verdient und zum Nachdenken über die interreligiöse Bedeutung des Pilgerns anregt.

Pilgererfahrungen der anderen Art
Freiburg: Herder Verlag. 2024
175 Seiten
18,00 €
ISBN 978-3-451-39721-9

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