Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Mouhanad Khorchide: Gott glaubt an den Menschen

Das Buch des Münsteraner islamischen Religionspädagogen Mouhanad Khorchide versteht sich als ein engagierter Alternativentwurf des Islam. Und dies gilt in beide Richtungen: Es ist ein kritischer Alternativentwurf des Islam gegenüber anderen Lesarten des Islam, die die Entfaltung des humanistischen Potentials behindern, und ebenso ein islamisch inspirierter gesellschaftlicher Gegenentwurf zu nicht weniger als der generellen Situation der Menschheit, die der Autor in der Gefahr des Antihumanismus sieht. Khorchide denkt nicht zu klein, und so muss man sein Buch als ein Manifest lesen, das der lebendigen Diskussion und den zum Teil heftigen Angriffen auf seine Person entwachsen ist.

Der Charakter des Buches ist jedoch auch noch einmal tiefer in seiner Auffassung des Islam gegründet, in der keine Lehrautorität und keine regulative Instanz darüber entscheiden kann, was „islamisch“ ist. Ein gewisser Dezisionismus ist dem Buch damit von vorneherein mitgegeben – was Islam ist, bestimme ich noch immer selbst, lautet die Devise. Wenn Tradition und Institution regulierend ausfallen, so „obliegt es dem Diskurs, zu bestimmen, welcher Islam sich letztlich durchsetzt“, wie Khorchide selbst formuliert. Und wenn es um Durchsetzung geht, dann fallen die Späne, dann ist keine Zeit zur Differenzierung, zu übergroßer Genauigkeit oder zu einem intensiveren Durchdenken von bereits Gedachtem. Doch zunächst das Anliegen und die anregenden Perspektiven.

Das Leitmotiv, von dem her Khorchide den angezielten Beitrag des Islam zum Humanismus bestimmt, ist der Gegensatz zwischen „Sich-öffnen“ und „Sich-verschließen“. Dieser Gegensatz ist mehr als eine methodische Orientierung am „Prozesshaften“. Tiefer ist das „Sich-Öffnen“ anthropologisch verortet: Im „Sich-Öffnen“ realisiert der Mensch sein Menschsein, kann er sein Ich doch nur am Anderen entwickeln. Schließlich ist das „Sich-Öffnen“ theologisch begründet: Gott, so Khorchide, gehe es in seiner Transzendenz nicht um sich, sondern um den Menschen. Khorchide legt damit eine originelle Lesart des islamischen Monotheismus vor, in dem die Transzendenz Gottes nicht durch die Unterscheidung Gottes vom Menschen, sondern durch die Zuwendung Gottes zum Menschen gewährleistet wird. Als theologisches Schlüsselmotiv fungiert dabei die Vorstellung einer Teilhabe des Menschen an Gottes Attributen, die Khorchide der islamischen Mystik entnimmt.

Die leitende Gegenüberstellung von „Sich-öffnen“ und „Sich-verschließen“ buchstabiert sich im gesamten Buch in argumentativen Achsen aus, die sich durch alle Themen hindurchziehen. Zu nennen ist erstens die anthropologische Wende, mit der Khorchide den Dienst am Anderen als wahren Gottesdienst verstehen und eine Argumentation unterlaufen will, die die Verantwortlichkeit für den anderen Menschen durch die Berufung auf die Ehre und den Willen Gottes aushebelt. Die anthropologische Wende ist zweitens theologisch mit einem eher weisheitlich-ordnenden Verständnis des Handelns Gottes verbunden, wenn man nicht gar von einem islamischen Deismus sprechen will: Gott greift in keiner Weise in die Welt ein, sondern wirkt durch rational erforschbare Naturgesetze und durch die Freiheit des Menschen, der als sein Stellvertreter Gottes Schöpfungswillen weiterführt. Drittens durchzieht ein emphatisches Freiheitsverständnis der Moderne die gesamte Argumentation, die ungebrochen Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Die Ergänzung von Autonomie und Selbstbestimmung durch Transzendenzoffenheit erlaubt Khorchide auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit religionskritischen humanistischen Ansätzen der Gegenwart. Der emphatische Freiheitsbegriff realisiert sich viertens in einer uneingeschränkten Traditions- und Institutionskritik. Die Abwesenheit einer kirchlichen Instanz ist konstitutiv für Khorchides neuen Humanismus. So kritisch Khorchide die christlichen Kirchen sieht, so sehr richtet sich der kritische Blick aber auch nach innen, wie es die Auseinandersetzung mit den Wurzeln der Gewalt im islamischen Denken zeigt. Das Thema des siebten Kapitels „Warum Gewalt mit dem Islam zu tun hat, der Islam aber nichts mit Gewalt zu tun haben will“ sticht durch seine differenziertere Argumentation aus den anderen Kapiteln heraus und ist für die Diskussion in schulischen und gemeindlichen Kontexten überaus nützlich. Schließlich kann man in positiver Auswertung darauf hinweisen, dass Khorchide durchaus originelle Neudeutungen einzelner traditioneller Motive bietet, so, wenn er den Teufel Iblīs als Anti-Humanist deutet, der zwar die Ehre Gottes kennt, sie jedoch gegen die Würde des Menschen ausspielt, oder wenn er den mekkanischen Polytheismus im heutigen Kontext als geistige Bevormundung verstehen will.

Kritische Anfragen kann man erstens an die Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch richten. Es ist zu fragen, ob die Zuordnung von menschlicher und göttlicher Freiheit als absolute und relative Freiheit nicht arg unterbestimmt ist. Wenn sich Freiheit nur durch die Bejahung anderer Freiheit vollzieht, wie Khorchide sagt, bleibt offen, was dies für die absolute Freiheit Gottes bedeutet. Die christliche Trinitätstheologie, mit der sich Khorchide nicht auseinandersetzt, erweist ja gerade in dieser Hinsicht ihre argumentative Kraft. Methodologisch ist zu fragen, ob Khorchides Argumentation nicht stark postulatorisch ist. Auch wenn er den Diskurs offenhalten will, so scheut er sich keineswegs davor, Koranstellen unmittelbar in die Gegenwart zu übertragen und mit einem direkten „Das heißt“ in die Eindeutigkeit zu überführen.

Eine Verbindung von Khorchides systematischer Deutung mit Ansätzen gegenwärtiger Koranforschung wäre sicherlich hilfreich, wenn sein Ansatz an Substanz gewinnen soll. Dazu aber, und das sei zum Schluss gesagt, müsste die islamische Theologie Zeit zur Forschung haben und die ist dem sehr aktiven Wissenschaftler Khorchide nicht gewährt. Auch wenn dieses Buch sich nicht an ein Fachpublikum wendet, kann man den Abriss vieler hunderter Jahre von islamischer und christlicher Geschichte nicht unter Bezug auf ein einziges Buch eines pensionierten Oberst im Verteidigungsministerium stützen, der nach seiner Berufstätigkeit Alte Geschichte studiert hat. Man kann nicht sämtliche Philosophen nur aus Sekundärzitaten zur Hand haben und sich insgesamt mit keinem einzigen Autor länger als eine halbe Seite auseinandersetzen. Der Leser wird dann doch stutzig, wenn behauptet wird, dass sich die christliche Theologie bis ins elfte Jahrhundert ausnahmslos feindlich gegenüber der Philosophie verhalten habe, oder wenn einmal wieder stereotyp die Verständlichkeit des islamischen Monotheismus gegenüber dem „trinären Gottesbild“ gelobt wird. Der Theologie, wenn sie der Auseinandersetzung erwächst und verständlich sprechen will, wäre doch etwas mehr Nachdenklichkeit und etwas weniger Selbstgewissheit zu wünschen.

 

Freiburg: Herder Verlag. 2015

268 Seiten

19,99 €

ISBN 978-3-451-34768-9

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