Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Nicola Gess: Halbwahrheiten

 

Wahrscheinlich sollte man sich freuen, wenn die Literaturwissenschaft heute stärker „Tatsachenwahrheiten“ in den Fokus nimmt, als sich wie bisher für Texte, ihre Echos und damit vor allem für die Wirklichkeit von Erzählungen, letztlich fürs Fiktionale zu interessieren. Denn mit dieser Neuausrichtung ist die Literaturwissenschaft auf der Höhe der Zeit angekommen und dient sich dem allgemeinen und inzwischen dominanten Paradigma des Empirischen an. So gewinnt sie an interdisziplinärer Anschlussfähigkeit und natürlich an Relevanz, wenn und insoweit sie sich am akademischen Wettbewerb um die angemessene Deutung der Wirklichkeit beteiligt.

Das vorliegende Buch der Schweizer Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess ist ein Antrag in diese Richtung und schon von daher eine interessante Neuerscheinung. Ihr prominenter Erscheinungsort in der gut besetzten Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ bei Matthes & Seitz verstärkt das Interesse dabei noch. Dass sich die Autorin darin die Analyse von „Halbwahrheiten“ vornimmt, deren Genese und Praxis unter die Lupe legt, erklärt dann zur Genüge die öffentliche Aufmerksamkeit, die das Buch in den Medien sogleich erzielt hat: Hier soll ein Beitrag zur Theorie des postfaktischen Zeitalters geliefert werden, der mit diversen „Fallstudien“ im Bereich von Komplotismus und Verschwörungsfantasien zwar über hochaktuelles Anschauungsmaterial verfügt, die eigene Theoriebildung dafür jedoch stark abkürzt. Das wird der Analyse allerdings zum Verhängnis. Denn so bleibt es sprichwörtlich eben bei Halbwahrheiten.

Ein Beispiel aus dem Bereich der systemtheoretischen Analytik, die im Buch benutzt wird: So plausibel es auf den ersten Blick erscheint, jene Halbwahrheiten vom Code wahr/unwahr zu lösen und sie damit als ziemlich immun gegen jedweden Faktencheck darzustellen, so wenig ist damit das Problem einer spezifischen Kommunikation um solche Halbwahrheiten im öffentlichen Raum schon gelöst – im Gegenteil, es verschärft sich sogar. Denn nur innerhalb von sozialen Systemen wird entlang von Codes operiert; kein Code, kein System. Für die Autorin könnte das wohl noch irgendwie als anti-systemischer Effekt durchgehen. Allerdings ist diese nicht-codierbare Umwelt sozialer Systeme kein luftleerer Raum, sondern das Biotop sozialer (diverser, aber nur zum Teil schräger) Protestbewegungen, die gerade für das Gegenteil der im Buch als eine Art Zeitgeist behaupteten Alternativlosigkeit stehen und eintreten. Man kann eben nicht alles haben, erst recht nicht systemtheoretische Analytik ohne Referentialität.

Und wo es doch versucht wird, wie im Buch, erwirtschaftet man Widersprüche, die sich nicht selbst begründen wie zu den ideologiekritischen Zeiten von Adorno, der neben Arendt eine Bezugsgröße bei der Theoriebildung zum Thema ist. Und so kommt schließlich der Eindruck zustande, dass man sich am Thema mitunter genussvoll abarbeitet, um die falsche Wirklichkeit einer/seiner höherwertigen Kritik überhaupt noch zu unterziehen – Analytik des anderen als eine Art Begründungsersatz für die eigenen theoretischen Optionen. Denn so richtig es ist, dass sich in Halbwahrheiten Erzählungen tummeln, so wenig ist das in der Wissenschaft ganz anders; es gibt keine Tatsachen, nicht einmal Wissenschaft an sich, auch ihre Diskurse evolvieren und formen sich mithilfe von Narrativen – die abwechslungsreiche Kulturgeschichte von Evidenz ist undenkbar ohne diese Diskursivität. Selbst Wissen und sogar Wissenschaft ist ohne Machtdiskurse inexistent – und kein Proprium von wissenschaftsfeindlichen Halbwahrheiten. Das konnte man schon bei Platon (positiv) und Foucault (positiv und negativ) einstudieren.

Worin schließlich der Mehrwert liegt, das Begriffsfeld von „Heimat“ ausschließlich den rechtslastigen Verschwörungsfanatikern anzudichten, erschließt sich weder aus dem Buch noch aus der Wirklichkeit. In Deutschland würden damit selbst eigentlich unverdächtige und sogar progressive Politiker wie Robert Habeck in die Ecke gedrängt, in Frankreich gleich die ganze Nation. Ergo: Wo immer es am Geist der Differenzierung mangelt, drohen imaginäre Abwehrkämpfe um Halbwahrheiten herum – und bei ihrer Theoriebildung letztlich die „Halbbildung“ (Adorno); in anderen Worten die Fetischisierung des eigenen Geistes innerhalb seiner sozialen Grenzen.

Vielleicht ist die Vorfreude auf die empirische Umorientierung der Literaturwissenschaft doch noch etwas zu früh: Als Leibniz in seiner Theodizee die beste aller möglichen Welten verteidigte, dachte er Tatsachenwahrheiten mit Vernunftwahrheiten zusammen. Im Namen der Ersteren auf Letztere zu verzichten, hat zwar seit Voltaires Kritik an Leibniz gewisse akademische Tradition, es führte aber am Ende oftmals dazu, dass nur noch der „Schwarzseher antwortet“ (Adorno) – obgleich selbst für diesen alle Theorie angeblich doch grau ist und darin immerhin der Wirklichkeit gleicht. Insofern wäre eine intertextuelle Vorstufe zum empirischen Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft derzeit wohl angemessen. So träte man erst gar nicht in den moralischen Schlagschatten aus guten Wahrheiten und schlechten Halbwahrheiten, sondern näherte sich mithilfe der Welt der Texte dem pluralistischen Quellcode unserer neuen Welt – Multiperspektivität inklusive, Tatsachenwahrheiten ebenso.

Zur Manipulation von Wirklichkeit
Berlin: Matthes & Seitz Verlag. 2021
160 Seiten
14,00 €
ISBN 978-3-7518-0512-4

Zurück