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Oliver Hallich: Angemessene Lügen. Ein sozialphilosophischer Essay
Oliver Hallich kündigt eine eigene Theorie an, die auf die Frage nach der moralischen Erlaubtheit des Lügens antworten soll. Dabei weist er die Auseinandersetzung mit moralphilosophischen Positionen (deontische, konsequentialistische) mit dem Argument zurück, diese würden im Grundsätzlichen verbleiben und deren Vertreter würden ihre Prämissen nur noch bekenntnishaft wiederholen. Stattdessen schlägt er eine „Entmoralisierung“ der Frage nach der „moralischen Erlaubtheit des Lügens“ vor. Der wesentliche Aspekt seines Ansatzes ist die Betrachtung der Bedeutung des Handelns allgemein und der Lüge im Besonderen für die Beziehung der Betroffenen in soziologischer Hinsicht.
Interpersonale Handlungen werden deshalb zunächst unter dem Aspekt betrachtet, dass sie etwas für die Art der Beziehung bewirken, dass sie diese „definieren“. Diese „Definition“ wird als unabhängig von den Intentionen und Auffassungen der Betroffenen verstanden und erhält ihre Bestimmtheit durch den gesamtgesellschaftlichen Kontext (kollektive Intentionen). Eine Lüge ist nach Hallich ein Sprechakt, der gegenüber dem Adressaten etwas verdeckt, insbesondere die dadurch vorgenommene Beziehungsdefinition, dem eine Täuschungsabsicht der lügenden Person zugrunde liegt und der die Beziehung als „Gegnerschaft“ definiert. Der Begriff der Gegnerschaft umfasst hierbei das Konkurrenzverhältnis in einem Spiel bis hin zur Feindschaft. Die Lüge bewirkt dadurch Gegnerschaft, dass mit einer Lüge Einfluss auf das Handeln der belogenen Person genommen wird, insofern deren Wollen so beeinflusst wird, so dass diese Person etwas anstrebt, was sie eigentlich nicht will („Angriff auf ihre Autonomie“).
Um sein Entmoralisierungsprogramm bezüglich der Lüge umzusetzen, ersetzt Hallich den Begriff der Erlaubtheit durch den der Angemessenheit. Er versteht hierbei das Lügen als eine „moralisch neutrale“ Handlung. Das, woran die Lüge bemessen werden soll, ist der Beziehungsstatus der beteiligten Personen. Für Hallich ist eine Lüge sozial angemessen, wenn die durch die Lüge definierte Beziehung (Gegnerschaft) mit der tatsächlichen Beziehung übereinstimmt, wenn die Gegnerschaft also besteht. Damit nicht jede Lüge als angemessen verstanden wird, muss er die definierte und die bestehende Beziehung voneinander unterscheiden. Er tut das, indem er die Auffassungen der Beteiligten über die Beziehung zwar als für die tatsächliche, nicht aber für die definierte Beziehung als relevant erklärt. Damit Angemessenheit und Unangemessenheit nicht als wertende Urteile verstanden werden, müssen normative Sätze in deskriptive transformiert werden. Wertende Urteile über Lügen, ungeachtet deren Angemessenheit – Hallich spricht von „löblichen“ und „moralisch bedenklichen“ Lügen – können anhand der Motivation getroffen werden. Sein Maßstab ist das Vorhandensein altruistischer Motive. Als unangemessen werden Lügen hier dann verstanden, wenn die Gegnerschaft von Seiten der belogenen Person nicht vermutet wird, sie also arglos ist und die Beziehung deshalb nicht als Gegnerschaft auffasst.
Im Weiteren geht Hallich auf Lügen in Nahbeziehungen ein, in denen die Differenz der Auffassungen der Beteiligten über die Beziehung besonders groß ist. Da er aber keine moralischen Urteile zulassen will, sind auch in diesen Beziehungen Vorwürfe dem Lügenden gegenüber unangebracht.
In den letzten Kapiteln werden Sprechakte unter dem Aspekt des Verhältnisses von Lüge und Täuschung betrachtet. Eine Täuschung, die nicht durch das inhaltlich Gesagte, sondern durch den Gestus initiiert wird, lässt Hallich nicht als Lüge gelten, ebensowenig, wenn die Absicht realisiert werden soll, durch Verschweigen relevanter Informationen ein falsches Verständnis hervorzurufen. Schließlich werden Situationen beschrieben, in denen Hallich meint, die belogene Person durchschaue die Lüge zwar, akzeptiere sie aber dennoch, wolle also belogen werden und sei damit auch nicht getäuscht worden.
Dieser Essay enthält eine Vielzahl von Beispielen, anhand deren Hallich sein Verständnis der Lüge und deren Angemessenheit illustriert. Auch wenn manche Deutungen fragwürdig sind, so eröffnet dies doch ein für die Thematik interessantes Feld. Der Begriff der Lüge hätte aber hinreichend geklärt werden müssen, wenn man darüber eine Theorie entwickeln will. Er ist sehr weit, umfasst er doch eine Finte in einem Spiel bis hin zu einem schweren Betrug. Eine einigermaßen klare Unterscheidung zwischen einer Lüge und einem Irrtum bzw. einem Missverständnis wird nicht vorgenommen. Die Lüge als einen Sprechakt zu bestimmen, der verdeckt ist, mit Täuschungsabsicht vollzogen wird und Gegnerschaft „definiert“, kann Hallich deshalb nicht als hinreichend verstehen, da unter den Begriff sonst auch eine bewusste Täuschung durch Weglassen von Informationen, die bezogen auf die bekannten Intentionen des Angesprochenen relevant sind, fallen müsste, was von Hallich aber nicht als Lüge beurteilt wird. In der Deutung der Beispiele zeigt sich, dass aus dem komplexen Kontext kommunikativer Handlungen wesentliche Aspekte unberücksichtigt bleiben. So ist es durchaus relevant, ob die Schilderung eines Ereignisses in einem Nachrichtenmagazin oder einem Roman veröffentlicht ist.
Die Nichtberücksichtigung relevanter Aspekte des Kontextes betrifft insbesondere die Intentionen, ob als eigene oder wechselseitig antizipierte Intentionen, sowie den individualgeschichtlichen Kontext. Der individualgeschichtliche Kontext führt aber dazu, dass eine Handlung von Dritten in ihrer Bedeutung für die Beziehung nicht hinreichend beurteilt werden kann. Ein solches Urteil wäre aber nötig für die Bestimmtheit der „Beziehungsdefinition“, damit diese nicht zu einem „Blick von nirgendwo“ wird, den der Verfasser anderen Moralphilosophien vorwirft. Die „kollektive Intention“, die er hierfür bemüht, verweist außerdem auf zwei Punkte, die kritisch in den Blick zu nehmen sind:
Erstens: Intentionen enthalten das, was erreicht werden soll, sind also immer normativ. Normatives lässt sich nicht ohne Verlust der Geltungsperspektive in Deskriptives verwandeln. Das aber zeigt sich als das wesentliche Anliegen Hallichs, wenn er beteuert, entmoralisieren zu wollen. Handlungen, dazu gehören auch Sprechhandlungen, sind zwar im Allgemeinen moralisch unbestimmt, deswegen aber nicht moralisch neutral, weil sie immer in das Leben anderer eingreifen.
Zweitens: Die Gesellschaft ist eine wichtige Größe innerhalb des Kontextes von Sprechakten. Die Gesellschaft ist aber wesentlich durch normative Verbindlichkeiten konstituiert (z. B. Gesellschaftsvertrag, Verfassung). Verlässlichkeit ist ein sehr hohes Gut für den Bestand einer Gesellschaft, weshalb sie auch ihre Mitglieder zur Wahrhaftigkeit verpflichtet.
Bezeichnend für Hallichs Ablehnung der Diskussionswürdigkeit von Moral ist seine Auseinandersetzung mit Kant, dem er vorwirft, mit dem Begriff der Menschheit nicht das Individuum zu meinen. Er zitiert hierzu Kant (72 f.) genau bis zu der Stelle, an der Kant von der Menschheit spricht, und lässt den Teil des Satzes weg, in dem dieser die Begründung für seine Position liefert.
Bleibt zu klären, was Hallichs „Angemessenheitstheorie“ leistet: Betrachtet man die Frage, die seiner Antwort zugrunde liegt, dann ist diese vergleichbar mit der, ob die Farbe des Hutes zu der des Mantels passt. Zu wissen, ob eine Lüge in Hallichs Sinne angemessen ist oder nicht, ist eigentlich belanglos. Angemessenheit allerdings ist ein philosophisch wichtiger Begriff, es kommt aber, wie Hallich selbst ausführt, auf die Relate an. In diesem Essay geht es darum, ob die Sprechhandlung „Lüge“ der Beziehungsart angemessen ist, bei Kant und anderen ist es die Vernunft.
Hamburg: Meiner Verlag. 2023
149 Seiten
19,99 €
ISBN 978-3-7873-4404-8