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Omri Boehm / Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant
Kant als ein öder und langweiliger Pedant – dieses Kantbild dürfte auch im Jahr seines 300. Geburtstages noch viele Vorstellungen prägen und dadurch auf das Verständnis seiner Philosophie als Gesetzesdenken zurückwirken. Dabei steht die Gesetzmäßigkeit, welche Kant an der Basis des Erkennens und der Freiheit herausarbeitet, für sein Programm, den „Humanismus durch die Freiheit zu verteidigen [...], nicht nur die Natur“ (21). Die Gesetze der Freiheit treten also an die Stelle von Natur und Autorität, und nur hierin liegt ein zulässiger, weil kritischer Begriff von Gesetz, was dann auch für die zivilen gilt. Und in seinem Privatleben war die Regelmäßigkeit (der berühmte Spaziergang immer um die gleiche Urzeit) eine Weise, seine Freiheit durch „Selbstbeherrschung“ zu pflegen (24): Vor der Herausforderung, als Sechzigjähriger sein kritisches dreibändiges Werk zu denken und zu schreiben, war es wichtig, „extrem pedantisch zu leben, damit du nie krank wirst“ (25 f). Wer sich – wie in diesem Beispiel – von vielen etablierten Vorurteilen und falschen Verständnisweisen des kantischen Denkens kritisch lösen will und gerade in Bezug auf Kant seine Urteilskraft stärken möchte, dem ist es angeraten, dem spannenden Dialog zwischen Daniel Kehlmann und dem international renommierten Kantexperten Omri Boehm zu folgen. In acht ausführlichen und gut lesbaren Teilen geht es um Kants Verständnis von „Mensch“, „Aufklärung“, „Erkenntnis“, „Religion und Gott“, „Schönheit und Kunst“, „Vernünftigkeit der Welt“, „Freiheit“ und „Moral“ – ein Streifzug durch sein Denken, um verständlich zu machen, was Kant der modernen Kultur als Grundlagen gegeben hat, welche heute noch unser universal-humanes Menschenbild formen und erhellen.
Die Würde des Menschen liegt dabei in seinem Bewusstsein vom Absoluten, das sich in seiner „Freiheit oder moralischen Integrität“ ausdrückt: Das Subjekt ist durch ein alle irdischen Dinge übersteigendes Vermögen ausgezeichnet – und hier drückt sich das Absolute in der Betrachtung des Sternenhimmels aus (37). Aus diesem Grund bezeichnet Boehm dessen Moralphilosophie als Nachdenken über den Menschen in seiner Würde als „das Bleibende an Kant“ (42). Kant hat in diesem Sinne eine Methode vorgegeben, Aufklärung als ethische oder existentielle Haltung zu realisieren und sie nicht einfach mit einer Epoche der Geistesgeschichte zu identifizieren (83 f).
Heines Ausspruch, dass die Kritik der reinen Vernunft das „Schwert“ sei, durch das „der Deismus hingerichtet worden [ist] in Deutschland“ (zit. 43), wird nicht nur als Vorläufer von Nietzsches Rede vom Tod Gottes ausgemacht, sondern auch dahingehend richtiggestellt, dass Kant zufolge gerade das Beweisenwollen der Existenz Gottes einer „Ermordung“ Gottes gleichkomme (43): „Kant hat etwas Tieferes getan, als Gott zu töten: Er hat die Autorität Gottes getötet, und zwar restlos“ (44). Dies bedeutet, dass Moral nicht aufgrund der Existenz Gottes absolut ist, sondern umgekehrt – deren authentische Absolutheit bringt den Menschen zum Glauben an Gott, ganz in Umkehr des Satzes von Dostojewski („Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt.“): „Weil nicht alles erlaubt ist, gibt es Gott“. Dementsprechend zeichnet den Menschen als Menschen in seiner über die Tierwelt – und über mögliches extraterrestrisches Leben – hinausgehobenen Würde nicht seine Intelligenzbegabung aus – wie oft interpretiert wird –, sondern Freiheit (49). Und so ist die „Antwort auf die Frage ‚Was ist der Mensch?‘“, die bekannterweise „nur eine moralische sein kann“, Boehm zufolge „vielleicht Kants größte Leistung“ (55 f): Diese Formel ist nicht so zu verstehen, dass „Person“ nur ist, wer moralisch handelt, sondern sie verknüpft dieses Prädikat mit der Fähigkeit, durch Freiheit moralisch zu handeln (56). Und bereits die Rechtfertigungspflicht von Wissen, soll es kritisches Wissen sein, ist von der Kritik der reinen Vernunft her eine grundlegend moralische Dimension: „kein Ich-Sagen ohne die umfassendere Fähigkeit, sein Wissen zu rechtfertigen“ (52). Vor diesem Hintergrund scheint es Boehm auch ein „freudscher Versprecher“ Kants zu sein, das sapere aude als die Aufforderung zum Mut zu „wissen“ zu verstehen, wobei es doch – eher sokratisch – um den Mut zu „denken“ geht: Es geht ihm nicht um wissenschaftliches, sondern um kritisches Denken (53 f). Deswegen ist er sich bewusst, dass die „maximalistische Idee der Menschheit“ immer nur angestrebt werden kann, und hier haben alle regulativen Ideen Kants ihren Bezug: Wenn wir ihm zufolge also handeln müssen, als ob es Gott gäbe und wir wirklich menschlich seien, dann ist dies Ausdruck von Kants „durchgängige[m] Platonismus“ (58), der somit Ausdruck seiner durchweg moralischen Interpretation der Welt ist (61). Da Kants „Begriff der Menschheit“ somit nicht auf den Ist-Zustand reduziert oder szientistisch eingeholt werden kann, erfordert er die Fähigkeit, ihn denken zu können, und diese speist sich aus dem Blick in den „bestirnten Himmel“ (64). Aus diesem Grund war für Kant übrigens auch jeder Versuch, eine „wissenschaftliche Anthropologie“ zu schreiben, „ein Widerspruch in sich“ (65). Seine Vorstellung vom Menschen ist so das eigentliche Thema der drei Kritiken.
Die Lektüre dieses Bandes ist hilfreich, nicht nur um viele Hintergrundzusammenhänge zu verstehen – so etwa der kantische Bezug auf Descartes, Spinoza, Leibniz oder Hume –, sondern auch um viele in den gut zwei Jahrhunderten seit seinem Tod festgesetzten und fehlleitenden Bilder zu berichtigen, so etwa die Interpretation Kleists, dass der Sinn der kantischen Erkenntnislehre darin besteht, dass wenn wir an der Stelle der Augen grüne Gläser hätten, urteilen würden, die Welt sei grün. Auch wenn er dadurch natürlich richtigerweise zum Ausdruck bringt, dass uns die Welt nie „an sich“ gegeben ist, sondern nur in unserer Erkenntnis (131 f), ist dies kein Einwand gegen die Tatsache, dass Kant Objektivität begründet und erklärt, warum das Subjekt objektive Realität erkennt, obwohl – bzw. gerade weil – es nicht als „Ding in der Welt sein kann“ (146). Dennoch existiert für Kant „die Welt“ nicht, und zwar nicht, weil es keine objektive Realität gibt, sondern weil jenes Gesamt aller Dinge, welche „die Welt“ bezeichnen, ein Grenzbegriff ist und als solche nicht erfahren wird (165-167). Wieder erweist sich, dass für Kant nicht die Wesensontologie, sondern die moralische Freiheit der Schlüssel zum Selbst ist: Was unsere objektive Erfahrung im Ganzen der Realität ausmacht, ist viel eigentlicher die Freiheit. Dies sei im Hinblick auf die prädiktiven ‚Versprechen‘ der heutigen digitalen Technologien gesagt: „Man wird nie wissen können, wie jemand handeln wird. Wenn Kant recht hat, kann man bestenfalls sagen, wie er handeln sollte“ (147), doch dies ist im anthropologischen Reduktivismus der heutigen Technologie nicht mehr das primäre Interesse, weswegen sich in kantischer Perspektive die Frage nach der Freiheit in der ‚digitalen Matrix‘ dringend stellt. Die den Menschen auf eine „biologische Kategorie“ abwertende Interpretation der KI, wie sie der Transhumanismus (Harari) vertritt, wird dann eigens thematisiert (233).
Dass in Kants Widerlegung der Gottesbeweise sich nicht Atheismus oder Irreligiosität ausdrückt, sondern lediglich die Ablehnung, dass sich der Glaube auf eine – in kantischen Begriffen – heteronome Auffassung der Autorität Gottes gründe, ist ein weiteres zentrales Thema des Dialogs (176). Natürlich führt dies zu einer Kritik aller Religion (die sich ja gerade auf diese Autorität stützt), aber auch aller Absolutheitsansprüche der Vernunft (177): Sie kann eben das Dasein Gottes nicht beweisen und hat deswegen nicht die Kompetenz, dieses zu widerlegen (187).
Eine besondere Erkenntnisweise ist die des Schönen, denn es handelt sich um eine allgemeine Aussage (Schönheit) über ein einzelnes Werk oder Objekt. Aus diesem Grund ist das ästhetische Wahrnehmen, obwohl es ein subjektives Urteil zum Ausdruck bringt, auf allgemeine Verständlichkeit ausgerichtet. Und das Interesse dafür, wie ein solches Urteil zustande kommt, ist Ursache dafür, „dass der eigentlich primär nicht besonders kunstinteressierte Professor Immanuel Kant das wichtigste Werk der Kunsttheorie überhaupt schreibt“, indem „das Problem des Schönen von Kant nicht nur gelöst, sondern gleichsam erfunden“ worden ist (194 f). Diese Lösung kondensiert sich in der Formel vom „interesselosen Wohlgefallen“ (zit. 204), was bedeutet, dass man das Objekt in sich selbst wertschätzt und nicht, weil es einem subjektiven Interesse entspricht. Dies gilt auch für den Autor bzw. das Genie: Kunst kann man nicht „anhand vorhandener Begriffe verstehen oder erschaffen“ (208). Damit ist das Genie stets Ausdruck einer Schöpferkraft, die über die Subjektivität hinausgeht. Boehm sieht hier einen Zusammenhang mit dem Beispiel der 100 Taler (aus der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft): Für das subjektive Interesse haben sie keinen Wert an sich, sondern dieser liegt in deren Existenz (es kommt darauf an, die 100 Taler zu besitzen), während das Kunstwerk umgekehrt seinen ganzen Wert in sich selbst hat und nicht in seiner materialen Existenz (210). Selbst die Bezeichnung als „Prophet“ würde die Funktion des Genies im „interesselosen Wohlgefallen“ der Kunst verzeichnen (211) – zudem ist die Aufklärung die „Ablehnung der Prophetie“ (212). In diesem Sinne hilft die Kunst bei der Realisierung der Aufklärung und ihres Ideals des „öffentliche[n] Denken[s]“, welches „jenseits der Rolle, die subjektiv auf unseren Beruf oder unsere Position, aber auch auf unsere individuelle Person bezogen ist“ (214 f), situiert ist: Die Frage nach dem Menschen nicht von der Kunst zu trennen, ist wohl eines der bedeutendsten aufklärerischen Einsichten, die gerade heute wieder neu ins Bewusstsein gerufen werden sollten (234 f).
Ein weiterer wesentlicher Gedanke, mit dem Kant die Moderne sattelfest gemacht hat, ist die Abtrennung der Tugend vom Glück: Da Letzteres nun in die subjektive Selbstbestimmung fällt, kann die Moral nicht mehr auf dieses zielen wollen, sondern muss unabhängig davon gelten (240). Darüber hinaus bestimmt Kant die Hoffnung neu, die über den Dogmatismus von Leibniz, dass wir bereits in der besten aller möglichen Welten leben, und demjenigen von Spinoza, dass es keinen über die bestehende Realität hinausgehenden Verweis gibt, gleicherweise hinausgeht (242): die Hoffnung, dass moralisches Handeln „möglich ist und sogar mit den Naturgesetzen zusammengeht“ (254), denn „frei zu sein“ heißt für Kant „ein Handeln aus Achtung vor der Freiheit nach der Formel des allgemeinen Gesetzes“. Erst damit wird Freiheit „aus Achtung vor der Menschheit“ realisiert (279). Der kategorische Imperativ ist mithin freiheitsermöglichend und wirkt nicht als Begrenzung, weswegen er „auch für Engel [und Gott] gilt“ (280). Dank diesem verwirklicht die Menschheit mit allen geistbegabten Wesen – Engel und Gott eingeschlossen – das Reich der Freiheit (281). Und somit ist den staatlichen Gesetzen nicht der politischen Autorität willen zu folgen, sondern da sie einen bürgerlichen Zustand gewähren, in dem die Menschenwürde gewahrt werden kann (293).
Der Dialogstil und die dem heutigen Leser entgegenkommende Sprache machen diesen Band zu einer kurzweiligen Verstehenshilfe des kantischen Denkens über weit verbreitete Stereotype hinaus. Für bereits mit dem kantischen Denken vertraute Leser bildet er wertvolle Reflexionen (so zur stets unterschwelligen Auseinandersetzung mit Spinoza: Kant geht es mithin darum, dass die Aufklärung nicht notwendig in Spinoza münden muss) und Aktualisierungen (mit Blick auf Nietzsche, Sartre und andere das 20. Jahrhundert prägende Autoren). Es ist eine philosophisch willkommene Versuchung, welcher der Leser kontinuierlich erliegt, wenn er sich implizit über die Gegenwartsrelevanz des kantischen Denkens befragt. Eine der zentralen Botschaften Kants in die heutige Mentalität der Wissenschafts- und Technikdominanz hinein ist dabei, dass wir als Menschheit dafür Sorge tragen sollten, „das Denken vor dem Wissen“ zu schützen (116).
Übersetzung dem Englischen von Michael Adrian
Berlin: Propyläen Verlag. Berlin 2024
349 Seiten
26,00 €
ISBN 978-3-549-10068-4