Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Otfried Höffe: Ist Gott demokratisch?

Das Verhältnis zwischen Religion und Demokratie war in der jungen Bundesrepublik aufgrund der grundgesetzlich verbrieften Religionsfreiheit und der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates lange Zeit weitgehend unproblematisch. Und doch erscheint diese Phase heute, nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terrorismus, dem Erodieren von Wertvorstellungen und religiösen Bindungen im Umfeld christlicher Konfessionen sowie dem Auftreten eines invektiven neuen Atheismus als eine Ausnahmesituation im Verlauf eines abendländischen Konfliktverhältnisses. In den letzten fünf Jahrhunderten standen sich vielerorts Politik und Religion sogar feindselig gegenüber, wie Otfried Höffe konstatiert. Obwohl der moderne Verfassungsstaat gerade in Deutschland eine ‚salomonische‘ Lösung der Koexistenz gefunden hatte, wurde er durch neue Aspekte des jahrhundertealten Spannungsverhältnisses wieder eingeholt.

Der am 12. September 1943 in Glubczyce in Polen geborene Philosoph beleuchtet in einem ausführlichen Essay enorm kenntnisreich und zugleich verständlich den Weg zur Moderne (erster Teil), der die Voraussetzungen für ein reflektiertes Verhältnis von Religion und Staat schuf, sowie – in einem zweiten Hauptteil – die zeitgenössischen Probleme. Der Kenner insbesondere von Aristoteles, Immanuel Kant und John Rawls entscheidet sich hier für ein Format ohne explizite Quellenangaben und Verweise: Er strebt mit seinem Impuls einen Effekt auf die politische und gesellschaftliche Realität an und keine Fachdebatte. Insbesondere zielt der international angesehene Autor, der u.a. in Fribourg, New York, Zürich und Tübingen lehrte und in der Schweiz der Ethikkommission (Bereich Humanmedizin) vorstand, darauf, die intoleranten Auswüchse des neuen Atheismus sowie des politischen Islamismus in die Schranken zu weisen und innerhalb der sinnvollen Begrenzung religiöser Einflusssphären den relevanten ‚Input‘ von Religionen (insbesondere des Judentums, des Buddhismus und des Christentums) ins Bewusstsein zu heben. Dabei gelingt Höffe eine Betrachtung der Religion „von beiden Seiten […], sowohl von innen als auch von außen“ (76), eine Herangehensweise, die er „vermutlich singulär“ bei dem im Buddhismus verwurzelten japanischen Denker Keiji Nishitani („Was ist Religion?“, 1982) verortet und nun selbst in der mitteleuropäischen Gegenwart anwendet.

Diese Doppelperspektive ermöglicht es, die von Jürgen Habermas 2004 geforderte Anerkennung religiöser Weltbilder und deren allgemeinverständliche Transformation als Überforderung zu erkennen. Innerhalb der Schlussdiskussion zur Frage, inwiefern die konstitutionelle Demokratie den Religionen über ihre Verfassung hinaus entgegenkommen könne, stellt er die Vorschläge Rawls, Kants und Habermas‘ vor und bemängelt unklares Verfahren und fehlende Exempel für die von Letzterem den Bürgern abverlangte Übersetzungsarbeit. Zielführender erscheint da die von Kant bereits geleistete Universalisierung (etwa der Erklärung der „Erbsünde“ als „Hang zum Bösen“): „Wenn Kants Deutung der christlichen Grundgedanken überzeugt, dann kann das Christentum diese Grundgedanken für sich beanspruchen und trotzdem auch Andersgläubigen und Ungläubigen zugemutet werden. Das Modell [Kants] hat also den Vorteil, einer Religion mehr Recht zu geben und trotzdem eine pluralistische Demokratie in Frieden zu ermöglichen.“ (221)

Höffe sieht im neutestamentarischen Jesuswort (Matthäus 22,21) „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ ein die Antike überschreitendes Prinzip der Teilung der Sphären als Voraussetzung für das moderne Verhältnis von Staat und Religion. Diesem begrifflichen Schritt folgt das Toleranzedikt von Mailand 313, während Augustinus etwa ein Jahrhundert später in altorientalische Vorstellungen zurückfällt (100). Der philosophiegeschichtliche Teil, in dem ein roter Faden von der griechischen Antike über Cicero, Thomas von Aquin, Abu Nasr al-Farabi, Machiavelli und Hobbes bis zu Rousseau gespannt wird, liefert Einblicke in hervorragend kompilierte Auffassungen der neuzeitlichen Aufklärung und deren Weiterentwicklung durch Kant und den Deutschen Idealismus bis hin zu den Radikallösungen der Linkshegelianer. Die ebenso gut lesbare Vorstellung späterer Verteidiger der Religion von Sören Kierkegaard über William James, Niklas Luhmann, Charles Taylor und Hans Joas macht deutlich, wie unberechtigt atheistische Absolutheitsansprüche gegenüber einer vermeintlich modernen Geisteshaltung ohne Gott sind.

Leider scheint der zweite Teil des Buches unter hohem Zeitdruck zumindest des Lektorates gestanden zu haben; nur so sind (leider zahlreiche) Fehler wie die Verwechslung von „Gebet“ und „Gebiet“ erklärlich (108) – ausgerechnet bei der Übersetzung von „cuius regio eius religio“ als Ergebnis des Augsburger Religionsfriedens von 1555. Zudem unterstützen summarische Auflistungen zum diesseitigen Wert der Religion (sichtbar in Redensarten, Ritualen, Kunstwerken) den Gedankengang weniger, als durch Überfülle zu ermüden. Da Höffe den Rahmen systematischer und historischer philosophischer Überlegungen hier verlässt, um sich zu konkreten sozialen Phänomenen zu äußern, wären einige empirische religionssoziologische Daten hingegen hilfreich gewesen.

Ungeachtet der Schwächen im Detail liegt aber mit „Ist Gott demokratisch?“ eine konstruktive Erörterung des problematischen Zeitphänomens der wachsenden Intoleranz gegen die Religion sowie auch bestimmter Religionsgruppierungen gegen ‚Ungläubige‘ vor. Dieser Entwicklung begegnet sie mit historischer und begrifflicher Differenzierung, die dem Selbstverständnis einer säkularen Gesellschaft nicht zuletzt durch den Rückbezug auf Kant einen großen Dienst erweist. Das Ziel des Königsbergers war, so die „Kritik der reinen Vernunft”, das Wissen einzuschränken, um „dem Glauben Platz zu machen”, d.h. Absolutheitsansprüche auf letzte Wahrheiten zu demontieren, nicht aber die religiöse Haltung als solche; Gott bleibt eine handlungsleitende „regulative Idee“. Über das praktische Ziel eines menschenwürdigen Zusammenlebens bleiben Staat und Religion miteinander verbunden, selbst unter laizistischen Vorzeichen. Letztlich ist es der universalistische Wesenskern des Christlichen, die Liebesbotschaft an alle Menschen ohne Unterschied, der den antiken Demokratiegedanken zum modernen, integrativen Staatsmodell auf der Grundlage der Menschenwürde zu vertiefen vermochte, wenn auch die kirchlichen Institutionen dieser ideengeschichtlichen Entwicklung stark hinterherhinkten. Der weithin vergessenen christlichen Soziallehre, ihrem Bottom-up-Prinzip und ihrer parteipolitischen Relevanz widmet Höffe ausführliche Kapitel und zeigt damit konkrete Wege, auf denen eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen Demokratie und Religion auch unter den Bedingungen wachsender religiöser Vielfalt und immer häufiger angezweifelter Volkssouveränität gelingen kann.

Zum Verhältnis von Demokratie und Religion
Stuttgart: Hirzel Verlag 2022
231 Seiten
24,00 Euro
ISBN 978-3-7776-3078-6

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