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Otto Kallscheuer: Papst und Zeit. Heilsgeschichte und Weltpoltik
Schon das Alte Testament nimmt eine allgemeinmenschliche Erfahrung in den Blick, die im Zentrum aller Religionen steht: Wie kann es dem Homo sapiens angesichts der Allgewalt der Zeit gelingen, Spielräume von Freiheit und Transzendenz zu gewinnen – im Christentum geschieht dies durch den Einsatz von Ordnungsbegriffen wie „Vorsehung“ oder „Reich Gottes“. Otto Kallscheuer greift im Untertitel seines Werkes auf die durch den göttlichen Logos gestiftete „Heilsgeschichte“ zurück, kombiniert diese aber mit dem säkularen Ausdruck „Weltpolitik“. Der Verfasser macht damit deutlich, worum es ihm in seinem Werk geht: „Beide Instanzen (in-)formieren, strukturieren, modifizieren einander wechselseitig. Das ewiggeltende WORT Gottes (der Logos allen Sinns von Sein) hat unter uns gewohnt – in der Zeit. … Aufgabe der Kirche und Job des Papstes ist es, dieses WORT so zu artikulieren.“
Es gehe, so der Autor von „Papst und Zeit“, nicht „um Holzwege im Unbegangenen“, also nicht um Philosophie à la Heidegger, sondern „um die Macht (in) der Kirche, um die Vollmacht ihres Chefs, um den Wandel und die Zukunft dieser Institution.“ Der Fachmann für Religion und Politik geht diese Aufgabe in seinem 30 Kapitel umfassenden, durch 20 Exkurse angereicherten Opus magnum auf fast 1.000 Seiten an: Auch die katholische Kirche als größte und älteste noch bestehende Institution auf dem Globus sei den Wechselfällen einander ablösender Epochen stets unterworfen gewesen; nie ruhte sie petrinisch-felsenfest in sich selbst, sondern musste von Anfang an darum kämpfen, die Zeichen neuer Zeiten zu deuten.
Wie konnte aus einer jüdischen Sekte eine Weltkirche werden? Auf welchem Weg vollzog sich der Aufstieg der Nachfolger Petri zu einem Papsttum mit unbestrittener Deutungs- und Entscheidungshoheit? Und welche Rolle spielte dieses „Regelsystem“ für die Entwicklung der westlich-abendländischen Welt? Packend erzählt der Autor vom 28. Oktober 312, an dem sich Kaiser Konstantins (306–337) Wende zum Christentum, ein welthistorisches Ereignis größten Ausmaßes, vollzog. „In hoc signo vincis – ‚in diesem Zeichen wirst Du siegen‘, habe ihm der Gesalbte (christos) Gottes im Traum versprochen ... Also prangte das Zeichen des Herrn – ‚XP‘, das Christusmonogramm Chi-Rho – auf den Schildern seiner Truppen, die am folgenden Tag im Triumph in die Hauptstadt einzogen.“ Kallscheuers Fazit: Konstantins „Begegnung mit dem Christuszeichen als dem neuen Siegesmal des römischen Kaisertums war kein historischer Zufall, sondern Ergebnis einer doppelten Entwicklung, in der sich beide Antagonisten, Kirche und Reich, teilweise bereits aneinander anverwandelt hatten.“
Dass das Papsttum weltgeschichtlich aber beinahe auf der Strecke geblieben wäre, dafür steht beispielsweise der Name Bonifaz VIII. (1294-1303). Anlässlich des ersten, von ihm ausgerufenen „Heiligen Jahres“ 1300 hatte er großspurig verkündet: Alle christlichen Reiche Europas unterstünden letztlich dem Apostolischen Stuhl. Was darauf folgte, war eine Tragödie – hundert bittere Jahre des Papsttums in Avignon, verbracht in „französischer Gefangenschaft“, fernab der Gräber der Apostel. Für die Nachwelt, so Kallscheuer, habe vor allem Dante Alighieri das Bild des „päpstlichen Machtmenschen Bonifatius VIII.“ geprägt, indem er ihn in jenes „Höllenloch“ versetzte, „in dem die kirchlichen Simonisten schmoren müssen. … Denn hier schmachten diejenigen Päpste, welche die Kirche als ‚schöne Braut‘ des Herren“ durch Ämterkauf verraten haben.
In der säkularisierten Gesellschaft zeichnet sich gegenwärtig ein neues Interesse für Glaubensmacht und Politik ab. Dabei geht es um grundlegende ethische, Völker und Nationen überwölbende und verbindende Konstellationen. Als Role Model und Identifikationsfigur für ein Papsttum, das auf der Höhe seiner Zeit agiere, legt der Politologe nahe, komme dabei beispielsweise Paul VI. (1963–1978) in Frage. Dieser habe vor der UN-Vollversammlung „für die Rolle des Papstes in der Weltpolitik die schöne, weil paradoxe Formulierung ‚Spezialist für humanité‘“ beansprucht. Diese „Wortwahl – Menschheit/Menschlichkeit – umschreibt gerade kein präzises politisches Aufgabenfeld“, sondern universelle Kriterien, an denen sich Politik heute jederzeit messen lassen müsse.
In seinem Werk berichtet der Autor in lebendiger Weise von geschichtlichen Wechselfällen, in denen Päpste – zwischen Antike und Spätmoderne – als Bekenner und Friedensstifter, aber auch als Kriegstreiber und Eroberer, Feinde der Aufklärung und Anwälte der Menschenwürde auftreten. Um das Papsttum zu begreifen, das zeigt Kallscheuer in seinem großartigen Buch, brauche es zweierlei: ein christlich-theologisches Grundverständnis von „Heilsgeschichte“, verbunden mit einer tiefgreifenden historisch-soziologischen Analyse von „Weltpolitik“.
Berlin: Matthes & Seitz Verlag. 2024
958 Seiten
44,00 €
ISBN 978-3-7518-2015-8