Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Paul Kirchhof: Religion und Glaube als Grundlage einer freien Gesellschaft

Der Jura-Professor und ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Paul Kirchhof widmet sich mit seinem Buch – in den Erfahrungen mit einem „kämpferischen Laizismus“ – der Frage, ob es einen freiheitlichen Staat ohne Religion geben kann. Der erste Teil besteht aus Vorlesungen des Autors. Im zweiten Teil sind Beiträge der Mitglieder der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg mit Repliken des Autors abgedruckt.

Paul Kirchhof beginnt sein Werk mit grundlegenden Ausführungen zur „Freiheit“. Er beleuchtet zunächst Eigenheiten und Gemeinsamkeiten der Staatsrechtswissenschaft und der Theologie und betont, dass Freiheit nicht Beliebigkeit ist, sondern auch Respekt für die Freiheit des anderen und der Rechtsgemeinschaft erfordert – ein Aspekt, der (modifiziert) im Folgenden noch mehrfach angesprochen wird. Scharfsinnig stellt er fest, dass es im Kirchenrecht zu wenig Erneuerungen („Betonrecht“), im Staatsrecht hingegen zu viele Änderungen gibt, um anschließend zu der für das Thema ganz zentralen Erkenntnis zu gelangen, dass die Religion ethische Anforderungen an die Gläubigen stellt, die diese Prinzipien wiederum in die demokratische Rechtsgemeinschaft hineintragen. Sehr aktuell sind dann die Erwägungen zum „Christentum als Arche der Gewissheit“, in denen der Autor die gegenwärtige Orientierungslosigkeit der Menschen in Zeiten des Schwindens des kirchlichen Einflusses, Beeinflussung durch digitale Medien und des Ukraine-Krieges beschreibt. Sehr anschaulich zeichnet Kirchhof nun das Bild des „Verfassungsbaumes“, dessen Stamm die unabänderlichen Leitgedanken der Verfassung (insbesondere Würde, Freiheit und Gleichheit) bewahrt und dessen Wurzeln, u. a. das Christentum, gepflegt werden müssen, damit die Lebenskraft des Baumes nicht verdorrt. In tiefergehenden Ausführungen zum Naturrecht legt der Autor dar, dass das Urchristentum aus der Idee der Gotteskindschaft einen radikalen Freiheits- und Gleichheitssatz (in einer von der Unterscheidung zwischen Herren und Sklaven geprägten Gesellschaft) hergeleitet hat. Im Anschluss an Erörterungen zur Idee der Freiheit betont Kirchhof, dass ein Freiheitsrecht stets verantwortliche Freiheit ist.

Diesen Gedanken aufgreifend thematisiert er nun „Qualifikationen zur Freiheit“. Dazu stellt er zunächst die Idee der Bürgerverantwortung heraus und vertritt die Auffassung, der Mensch müsse sich ständig zur Freiheit qualifizieren, Freiheitsfähigkeit erlangen und das Freiheitsangebot gemeinschaftsbewusst annehmen. Diese innere Bindung dürfe die Rechtsordnung erwarten und durch freiheitsgerechte Erziehung fördern. Kirchhof stellt nun fest, dass Religion gegenwärtig auf Gleichgültigkeit und Ablehnung stößt, und versucht, Ursachen hierfür aufzuzeigen. Dass die Prägung von Geist und Seele Aufgabe der Kirchen ist, ist eine weitere wichtige Erkenntnis. Der Autor schließt daraus, dass der demokratische Staat der Mitwirkung der Christen bedarf.

Sodann folgen Erwägungen zum religionsoffenen und säkularen Staat. Glaube und Vernunft seien keine Gegensätze, sondern gegenläufige Prinzipien, die sich gegenseitig brauchten und gegenseitig anerkennen müssten. Kirchhof geht davon aus, dass es einen demokratischen Staat ohne Gott nicht geben könne, wenn das Staatsvolk die Freiheit habe, mit Gott zu leben. Er skizziert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Neutralitätspflicht des Staates, zeigt andererseits aber auch auf, dass der Verfassungsstaat in Verantwortung vor Gott entstanden ist und in dieser Verantwortung lebt.

Das letzte Kapitel widmet der Autor der Leistungsfähigkeit von Kirchen und Religionen. Er kritisiert – vorsichtig – die Unterscheidung von Amt und Laien, die Stellung der Frau in der katholischen Kirche sowie das Zölibat und spricht auch den Missbrauchsskandal an, um anschließend Reformen des Kirchenrechts zu empfehlen. Insgesamt gelangt er zu dem Ergebnis, dass eine Schwächung des Christentums den Verfassungsbaum in seiner Existenz bedrohen würde.

Paul Kirchhof liefert mit diesem Buch, das über die genannten Punkte hinaus eine Fülle weiterer wertvoller Einsichten enthält, überzeugende Argumente dafür, dass das Christentum ganz erhebliche Bedeutung für den freiheitlichen Verfassungsstaat hat.

Mit Beiträgen von Wolfgang Baum, Corinna Gerngroß, Sebastian Holzbrecher, Yves Kingata, Alfons Knoll, Bernhard Laux, Ute Leimgruber und Alexander Lindl
Veröffentlichung der Papst-Benedikt XVI.-Gastprofessur
Freiburg: Herder Verlag. 2023
269 Seiten
42,00 €
ISBN 978-3-451-39618-2

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