Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Peter Moore: Die Neuerfindung der Religion

Der Titel des Werkes ist höchst ambitioniert. „Reinventing Religion“, so heißt es im englischen Original, und der Leser merkt rasch, dass es dem Autor weniger darum geht, das so altehrwürdige wie komplexe System „Religion“ tatsächlich „neu zu erfinden“, als vielmehr darum, es zu revitalisieren, Spreu vom Weizen zu trennen.

Für Peter Moore (*1945), der vier Jahrzehnte lang Religionswissenschaft in Kent lehrte, lässt sich Religion nur zum Preis einer irreführenden Einfachheit auf eine Formel bringen. Gleichwohl reagiere, so seine Annahme, jede religiöse Gemeinschaft auf Erfahrungen des Heiligen und Transzendenten. Die Weise dieser Reaktion profiliere dann eine Religion. Näherhin entdeckt Moore vier essentielle Dimensionen: Erleben, Praxis, Theorie, Institution. Bevor er diese und andere Kernelemente der religiösen Wirklichkeit bedenkt, betont er im Abschnitt „Den Glauben überwinden“ die Zwiespältigkeit der Glaubensdoktrinen: Sie scheinen notwendig, können aber leicht selbst zu „Objekten des Glaubens“ werden: „Der Glaube an das universelle Selbst ist eine Sache, der Glaube an Doktrinen über das universelle Selbst eine ganz andere.“ So gelte es, vor Glaubensvorstellungen „auf der Hut zu sein“, ihre Vorläufigkeit zu bedenken. Das ist so herausfordernd wie nachvollziehbar formuliert, und Moore schafft es durchgehend, in allen zwölf Kapiteln seines Werkes die kreative Balance von Kritik und Inspiration aufrechtzuerhalten.

In „Religion als Praxis“ verweist er nicht nur auf die „künstliche Trennung zwischen dem Heiligen und dem Säkularen“, sondern auch auf die „Wunde“, dass viele religiösen Praktiken eher als Pflicht denn als Kür erlebt werden: „Doch die Menschheit – Homo sapiens – ist auch Homo ludens. Freude, Spaß und Spiel können im religiösen Leben eine ebenso große Rolle spielen wie in jedem anderen Bereich der menschlichen Aktivität.“ Ungewöhnliche Töne? Wohl und leider ja! Im Kapitel „Vertrauen wir auf Erfahrungen?“ postuliert Moore ein Kriterium für die Wertigkeit von religiösen Erfahrungen: ihre das Leben verändernde Kraft. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,20) – so könnte man Moores Überlegungen zu einem Glutkern des Religiösen zusammenfassen. Das ist alles andere als banal, „kritisch“ vielmehr im ursprünglichen Sinne des Wortes. Hier lässt sich eine Verbindungslinie „Religiös und gut? Der Glaube und die Moral“ ziehen. Bekannt ist der Einwand, dass man nicht religiös sein müsse, um gut zu sein. Zugleich weisen Religionen unabhängig von ihren spezifischen Glaubensdoktrinen große Überschneidungen in puncto „Moral“ auf – am bekanntesten in der „Goldenen Regel“. Auch hier vermag der Autor die Perspektive zu weiten, wenn er ausführt, „dass es bei Religionen in ihren reifsten Ausdrucksformen darum geht, ganz zu werden“. Das meint der fundamentale Begriff „Erlösung“ (engl. salvation). Deshalb dürfe sich religiöse Moral nicht an Konformitäten, gar den Interessen von Institutionen orientieren, vielmehr „solche Kräfte beflügeln und stärken, die es den Menschen erlauben, Erfüllung in ihrer Existenz zu finden, ob nun in dieser Welt oder der nächsten.“

Ein überraschend starkes Kapitel findet der Leser unter „Abgötterei damals und heute“. Denn auch mit „Idolatrie“ dürfe man es sich nicht zu einfach machen. Es gehe doch nicht, so Moore, um die höchst unwahrscheinliche Verwechslung zwischen einem physischen Bild und dem spirituellen Wesen, das dieses Bild repräsentieren soll, vielmehr um starre Konzepte des Heiligen, um „mentale Bilder“, die durchaus das Wachstum behindern können. „Ein römisch-katholischer Gläubiger, der die wahre Präsenz Christi in der Hostie (dem eucharistischen Brot) anerkennt, aber einen Hindu dafür kritisiert, dass er die Präsenz etwa des Gottes Shiwa in einem Bild von Shiwa verspürt, begibt sich auf so dünnes Eis, dass man es auch für Wasser halten könnte.“ Das klingt polemisch, gar verstörend – und regt doch zum Nachdenken an.

Seine „Neuerfindung“ – besser wohl: Neuvermessung – des Religiösen in Kapiteln, die sich auch unabhängig voneinander studieren lassen, beschließt der englische Religionswissenschaftler mit einem fundamentaltheologischen Epilog. „Es gibt keinen echten Beweis für die postromantische und pseudowissenschaftliche Idee eines kalt indifferenten und grundlegend unpersönlichen Universums, das nur rein zufällig von uns verblüfften – und verblüffenden – Menschen bewohnt wird. Wenn überhaupt, dann ist unsere unleugbar persönliche Erfahrung in diesem Universum der Anscheinsbeweis gegen eine solche Theorie.“ Das sind starke Sätze, die lange nachklingen, die das Buch zu einer Apologie der religiösen Existenz heute machen.

Jenseits von Glaube und Skeptizismus
Aus dem Englischen von Kathrin Lichtenberg
Zürich: Midas Verlag. 2022
304 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-03876-548-6

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