Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Peter Schäfer: Das aschkenasische Judentum

Innerhalb weniger Jahre erscheint mit Peter Schäfers epochaler Arbeit im deutschsprachigen Raum die zweite große Monographie zur Geschichte des Judentums, diesmal in der renommierten neuen Historiensammlung der Gerda Henkel Stiftung beim Beck Verlag, wo schon Jill Lepores „Geschichte Amerikas“ und Jürgen Osterhammels „Geschichte des 19. Jahrhunderts“ erschienen sind. Während Martin Großmann auf 750 Seiten 4.000 Jahre jüdische Weltgeschichte bearbeitet, konzentriert sich der namhafte Judaist und ehemalige Leiter des „Jüdischen Museums Berlin“, Peter Schäfer, auf die Aschkenas, also den Teil des europäischen Judentums, dessen Kultur inklusive seiner inzwischen weltweit verbreiteten Sprache – Jiddisch – im Römischen Reich Deutscher Nation bereits in der Antike entstanden, seinen Schwerpunkt aufgrund der spätmittelalterlichen Judenverfolgungen vor allem in Deutschland nach Osteuropa verlagert hat. Dort wurden Millionen von hnen vom nationalsozialistischen Deutschland auf unmenschliche Weise und quasi industriell vernichtet. Als Pendant der Aschkenasim sind die sephardischen, also „spanischen“ Juden mit ihrer eigenen, auch sprachlichen Kultur und Verfolgungsgeschichte zu nennen.

Schäfer strukturiert sein schwer überschaubares Material – er hat sowohl alle verfügbaren Texte, aber auch das gesamte bauliche und archäologische Material „auf seinem Schreibtisch“ – in: 1.Herkunft“, wo israelisches Mutterland, antike Diaspora und jüdische Existenz im Römischen Reich detailliert dargestellt werden; 2. „Verbreitung“, wo der Begriff „Aschkenas“ entschlüsselt und „der lange Weg nach Westeuropa“ dargestellt wird; 3. „Gemeindeleben“, wo wir vor allem über die rechtliche Stellung der Juden im Mittelalter, ihren Fernhandel und die Geldwirtschaft, Institutionen und Ämter lesen. Die Genauigkeit von Schäfers Arbeit wird vor allem in seiner kleinteiligen Darstellung bedeutender aschkenasischer Gemeinden sichtbar: Der Band bietet auf 60 Seiten die konzentrierte Geschichte der Gemeinden in Köln, Mainz, Speyer, Worms, Regensburg, Prag und Frankfurt. Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, wie unsere eigene Regionalgeschichte eng mit der jüdischen Geschichte in Mitteleuropa verflochten ist.

Der Autor taucht im vierten Teil des Buches „Leben mit der Thora“ tief in literarische und theologische Kulturen und das Gemeindeleben ein: Welche Rolle spielten Thora, Talmud und die Kommentare aschkenasischer Rabbiner wie der Wormser Raschi im konkreten Gemeindeleben? Welche Verordnungen regelten das Leben in den „Schum-Städten“ Speyer, Worms und Mainz? Wir begegnen synagogaler Poesie und den Frommen der Aschkenas, also zentraleuropäischen Vorläufern der osteuropäischen Chassidim, und erleben schließlich die Rückkehr der Bilder in die wenig bekannte jüdische Buchmalerei nach 700-jährigem Verschwinden unter islamischem Einfluss.

Im fünften Teil lesen wir dann von „Verfolgungen und Vertreibungen“, hier vor allem über die initiale Zeit der Kreuzzüge, die 1.000 Jahre friedliche Koexistenz zwischen Juden und Christen auf Dauer beenden, über antijüdischen Hass, der sich aus klassischen Fake News über Ritualmorde und Hostienfrevel speist, um in Bücherverbrennungen, Pogromen und Vertreibungen zu enden, schließlich über antijüdische Propagandabilder, „Christusmörder“, „Verbündete Satans“, die „Judensau“ und das ideologische Zueinander von „Ecclesia und Synagoga“ an den großen Kathedralen von Bamberg, Straßburg, Reims und anderswo.

Im sechsten und letzten Teil, der für eine Darstellung des zeitgenössischen aschkenasischen Judentums wie schon bei Großmann zu kurz gerät, begleiten wir die jüdischen Gemeinden auf ihrem „Weg nach Osten“: Ihre Blüte beginnend mit dem Schutz des Statuts von Kalisz (und später Wislica) König Boleslaws VI. in Polen und Litauen, erfahren – von der erstarkten christlichen Kirche von Beginn an kritisch beäugt – vom katastrophalen Chmielnicki-Massaker mit bis zu 100.000 Toten, der chassidischen „mystischen“ Frömmigkeit jenseits der Orthodoxie und hier sehr genau von der Lurianischen Kabbala, der Sabbatianischen Bewegung des Jakob Frank, den Chassidim und Mitnaggedim, also den Gegnern des Chassidismus. Als „Aufbrüche in eine neue Welt“ begreift Schäfer die jüdische Aufklärung (Haskala), den jüdischen Sozialismus, den Zionismus und schließlich die Entstehung der jiddischen und neuhebräischen Literatur der aus Osteuropa stammenden Autoren von Weltrang: Isaac Baschewis Singer, Scholem Alejchem und Samuel Joseph Agnon, Literaturnobelpreisträger von 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs. Ihre Herkunftsregion Galizien, genauer Czernowitz, der auch Dichter wie Rose Ausländer, Paul Celan und Ossip Mandelstam entstammen, kommt jedoch nicht mehr in den Blick.

Warum sollten Christinnen und Christen diesen Band lesen? Weil die Geschichte des aschkenasischen Judentums ohne die christliche Kirchen-, aber auch Kultur- und Sozialgeschichte nicht zu denken ist. Im Positiven eines echten Wettbewerbs und Dialogs der beiden Religionen und der wechselseitigen Inspiration wie – und dieser Teil ist entsetzlich übermächtig – im Negativen der ursprünglich christlich motivierten und befeuerten Ermordung, Vertreibung, Entmenschlichung und Unterdrückung jüdischer Menschen, die einmal friedliche Nachbarn waren. Diese mit dem ersten Kreuzzug 1096 anhebende Geschichte des Grauens wird in der nüchternen, sehr genauen Darstellung Peter Schäfers auf jeder zweiten Seite sichtbar: Synagogale Poesie, Qinot – das sind vor allem Klagelieder über das christliche Gemetzel in jüdischen Gemeinden während der Kreuzzüge: „Als sie diese zum Schlachten weihten […] Frauen ihre Leibesfrucht, ihre sorgsam gehegten Kinder. […] Der Sohn wird geschlachtet und der Vater betet das Schma – wer hat so etwas gesehen, wer hat (es) gehört?“ (286f).

Die Lüge über jüdische Ritualmorde und Hostienfrevel entsteht 1144 in England, fokussiert auf die Figur Wiliam von Norwichs, und war von Anfang an konzipiert als eine Art pervertierte Wiederholung der Leiden Christi in der Passionszeit inklusive Folter mit Dornen, Kreuz und Seitenwunde. In ihrer fantasmatischen Grausamkeit an einem Kind (bis heute lebt sie in Floskeln wie „Kindermörder Netanjahu“ weiter) rechtfertigt sie in den folgenden Jahrhunderten jede Bestialität gegenüber den jüdischen Gemeinden, die sie nicht selten nach dem Karfreitagsgottesdienst überrollte, weshalb ihnen in dieser Zeit verboten war, ihr Haus oder gar das Judenviertel bzw. Judenghetto zu verlassen. Neben Bücherverbrennungen, die wir gerne mit Nazis in Verbindungen bringen, finden wir schon früh die Verbrennung ganzer Familien, ja Gemeinden in verschlossenen Häusern, so in Würzburg, Blois und Orleans. Massive Verschuldung christlicher Bürger bis hinauf zum Kaiser, Hungersnöte und die Pest intensivieren die antijüdische Gewalt bis zur endgültigen Vertreibung aus allen bedeutenden Reichsstädten im 15. Jahrhundert et cetera, et cetera.

Herkunft, Blüte, Weg nach Osten
München: C.H. Beck Verlag. 2024
560 Seiten m. farb. Abb.
39,00 €
ISBN 978-3-406-81247-7

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