Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat

Wie immer spritzig und ungemein belesen, um keine Pointe verlegen und des Öfteren eine zu viel – aber Idee und Durchführung sind originell und anregend: Just jene Farbe bzw. Nichtfarbe ist Thema, die gemeinhin als eher überflüssig, störend oder banal gilt wie eben der berüchtigte graue Alltag. Erfrischend Neues kommt zu Tage – z.B. die „Enthierarchisierung und Entsymbolisierung“ im Farbenreich nach der Aufklärung: das göttlich-mystische Weiß als Ineinsfall aller Farben und Gegensätze wird entthront z.B., jede Farbe hat pluralistisch ihr Eigenrecht, und bunt soll es zugehen. Zu Tage tritt zudem, dass die gemischte Ein-Faltung aller prismatischen Farben nicht Weiß ergibt, sondern – Grau. Mit Platons Höhlengleichnis, Hegels Eule der Minerva und Heidegger kommen drei Stationen in den Blick, die vom Dämmern und Dunklen handeln. Ge-Gräu nennt Sloterdijk das. „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, nur erkennen“. Und Heidegger muss 1929/30 in seiner großartigen Phänomenologie des Nihilistischen zuspitzen: „Ist es am Ende so mit uns, dass eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herzieht?“ Wird hier „die Grundstimmung der Schwermut“ diagnostiziert, so erzählen Kafkas Geschichten ebenso makaber wie banal von der völligen Ohnmacht und Ausweglosigkeit: „Wo Jenseits war, soll Behörde werden“.

Seit den Steinzeitbildern ist klar, von welch prägender Symbolik Farben im kulturellen, religiösen und politischen Leben sind. Sloterdijk erinnert an die Farb-Parteien in den Arenen der Antike oder an höfisches Zeremoniell und natürlich an die Symbolik kirchlicher Liturgien. Im 17. Jahrhundert kommt der politische Typ der „grauen Eminenz“ auf. Faktenreich und durchaus unterhaltsam wird eine „Erweiterung der politischen Farbenlehre“ bis in die Gegenwart erzählt, mit viel Rot, Schwarz und Braun der Parteiungen. Vor allem werden „die Vergrauungsleistungen“ des säkularen Staates hervorgehoben, in dem alle extremen und absoluten Behauptungen und Haltungen schöpferisch relativiert und unter den grundsätzlichen Verdacht des Irrtums gestellt werden. Dagegen machen sich „Grauzonen bemerkbar, sobald die Ordnung versagt, ohne dass das Chaos willkommen wäre“ (117). Nur kein Schwarz-Weiß-Denken, denn das (ver)schärft Kontrast bis zum Absolutistischen hin – nein: Grau ist die Farbe der neueren Zeit (signifikant im Boom des Schwarz-Weiß-Films, der eigentlich ja von den Grautönen lebt!). Ja, gerade um der buntesten Vielfarbigkeit des Lebens willen gilt es, das Grau zu rehabilitieren und aus seiner Mauerblümchen-Ecke der Farbenlehre herauszuholen – ganz auf der Spur von Cezannes hintergründiger Bemerkung: „So lange man kein Grau gemalt hat, ist man kein Maler!“ (225)

Mit religionspädagogischem und theologischem Fragehorizont gelesen, interessieren natürlich besonders die letzten der fünf Kapitel. Denn selbstverständlich geht Sloterdijk weit in die Geschichte auch des Christentums zurück und erweist sich dabei erneut als zugleich fleißiger und höchst selektiver Leser. So wird natürlich die biblische Erschaffung des Lichtes traktiert, freilich wie so oft in höchst eigenwilliger Lesart. Besonders aber hat es der Manichäismus dem umtriebigen Allround-Philosophen angetan – und seit Jahrzehnten schon die damalige Gnosis; da werde gerade nicht dualistisch Licht gegen Dunkel, Weiß gegen Schwarz gesetzt, sondern beides ineinander verschaltet: Die Lichtfunken gerade in der dunklen Materie brächten die schöpferischen Grautöne hervor, damals wie heute. „Mani und Heidegger haben gemeinsam, dass das In-der-Welt-Sein zunächst und zumeist den Aufenthalt im Diffusen impliziert.“ (135) Entsprechend gnostisierend wird die kirchliche Erbsündenlehre, ziemlich missdeutet, eingespielt. Überhaupt ist erstaunlich, wie leichtfüßig und selbstgewiss Sloterdijk über Christliches urteilt und Kirchliches bis zur Karikatur verkürzt – als bräuchte er selbst, mindestens methodisch, die Schwarz-Weiß-Technik. Auch Sloterdijks pfiffige Relecture von Dantes „Göttlicher Komödie“ – natürlich mit dem besonderen Lob des angeblich „grauen“ Mittelteils, dem Purgatorium – ist ebenso provozierend wie fragwürdig. Den hoch interessanten „Parcours durch die affektiven und poetischen Deklinationen der unfarbigen Farbe Grau“ (210) so nebenbei einfach mal mit den Stationen des Kreuzwegs zu vergleichen (176), verrät viel über die nicht- und nachchristliche Lesart des Christlichen, die bisweilen als obszön erscheinen kann. Salopp und aufgesetzt ist auch die kurze Bemerkung zur Vaterunser-Bitte ums „überwesentliche“ Brot (252). Bis ans Absurde kurzschlüssig ist es, wie die klassische negative Theologie mit postmodernem „Schweben in Angst“ gleichgesetzt und zu grauer Theologie erklärt wird. So ungemein anregend also die Durchführung der Leitthese ist – und erst recht diese selbst –, Sloterdijk ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein (Halb-)Blinder über die Farbe des Christlichen schreibt, das er nicht wirklich kennt und in seiner gelebten Wirklichkeit nicht kennen lernen will. Dazu gehörte nämlich das Ernstnehmen heutiger theologischer Diskurse, die ihren Namen verdienen (wie z.B. Thomas Pröppers Theologische Anthropologie).

Fazit: Höchst anregend, mit teils brillanten Passagen und neu erinnerten Zitatenschätzen, liegt ein treffliches Buch zum postmodernen Main-Stream vor. Das originelle Lob der Grautöne stimmt passgenau zur allseitigen Beschwörung des Relativen und zur Verdächtigung des Absoluten. Grau, „die Kompromissfarbe a priori“ (134), steht immerhin als Zwischentönung in der so komplexen und unverbindlichen Postmoderne. Gewiss, jede Absolutsetzung und Letztbegründung steht mit Recht unter Verdacht, aber muss es deshalb beim „bleiernen Zwielicht der conditio humana“ (136) bleiben, beim Schwadronieren im Unverbindlichen? Ein Cezanne z.B. hatte anderes im Sinn. Auch dieser Sloterdijk führt ein schöngeistig sprühendes Deutetheater auf mit schwirrender Intelligenz und höchst unterhaltsamer Fabulierlust – freilich im Spiegelsaal des aufgeregten bildungsbürgerlichen Ichs und seiner folgenlos verspielten Unverbindlichkeit. (Von dem schrecklichen Gegräu mörderischer Kriege ist im ganzen Buch nicht die Rede, vom Ernstfall also).

Eine Farbenlehre
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2022
286 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-518-43068-2

Zurück