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Philipp David: Der Tod Gottes als Lebensgefühl der Moderne
Zu den unthematischen wie thematischen Erlebnistönungen der Moderne gehört eine spezifische Weise des Bewusstseins vom „Tode Gottes“ bzw. von Göttern. Philipp David legt hier ein Buch vor, das einen breiten und differenzierten Blick auf ein wesentliches religionsgeschichtliches und -psychologisches Motiv ermöglicht.
Die Bedeutung des Themas erwächst für den Autor aus der Zeitsituation, in der sich sowohl die aktuelle Philosophie als auch das Alltagsleben weitgehend jenseits der ‚Gotteshypothese‘ eingerichtet haben (4). Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet die „Wahrnehmung und Beschreibung des Wortes vom Tod Gottes als ein vielsagendes wie umstrittenes existenzielles Krisenphänomen wahrzunehmen … , theologische, philosophische und literarische Texte durch diese hermeneutische Brille zu lesen und einen radikalen theologischen U-Turn zu vollziehen“ (11). David betont, dass die Theologie sich in einer „Suchbewegung mitten in das Ereignis des Todes Gottes“ (39) stellen müsse und keine äußerliche Distanz pflegen dürfe. Nur so könne sie auch eine Aufarbeitung des zurzeit blühenden Fundamentalismus leisten (126).
Der erste Hauptteil der Arbeit widmet sich, nach methodischen Überlegungen und der Darstellung des Forschungsstandes, drei gleichsam paradigmatischen Varianten des Themas in der Antike (Ägypten, hellenistisches Denken, frühes Christentum). In einer „Szenenfolge, deren Verwurzelung im Totenkult unverkennbar ist“ (155), vollzieht sich im ägyptischen Bereich das Sterben und Zurückkehren der Götter, wie der Autor besonders am Beispiel von Isis und Osiris und ihrer zum Leben erweckenden Liebe als Teil einer „kosmotheistischen Ordnung des Lebens“ (198) erläutert. In der „Epochenschwelle“ (163), der Zeit Jesu von Nazareth und des Tiberius, erzählt Plutarch vom Erschrecken bei der Schiffsbesatzung, als sie von der Paxosinsel her den Ruf hören, dass der „große Pan“ (165) tot sei. Seit dem neunzehnten Jahrhundert bekommt diese Erzählung für viele zeitgenössische Autoren eine wichtige Bedeutung. Als drittes wichtiges Motiv bezieht sich dann David auf das Kreuzesgeschehen und den christlichen Auferstehungsglauben.
In der Neuzeit wirken alle drei Motive auf einer „theologische(n)“, „zeitdiagnostische(n)“ und „existenzialhermeneutischen“ (199) Ebene auf das Lebensgefühl ein. Ab dem 17. Jahrhundert nimmt das „Gefühl der Gottverlorenheit als Vorahnung des Todes Gottes“ (200) zu. Die selbstverständliche Voraussetzung der Alternativlosigkeit des Christentums gegenüber anderen Religionen und die der Religion gegenüber nichtreligiösen Weltanschauungen gerät schrittweise ins Wanken. Immanuel Kant zerstört die Voraussetzung eines theoretischen Gottesbeweises, Fichte schien für viele Leser Gott auf Moralität zu reduzieren und Feuerbach macht dann endlich den Menschen „zum Maß aller Dinge und der Wirklichkeit überhaupt“ (217). Schleiermacher geht den Weg einer Antwort auf diese Gotteskrise, indem er herauszuarbeiten versucht, dass der Bezug auf Gott durch einen Bezug auf „die Anschauung und das Gefühl des Universums“ (227) als „unmittelbare Wahrnehmung“ (Schleiermacher zitiert: 231) ersetzt werden kann. „Literarische Deutungsvarianten“ (250) des Tod-Gottes-Erlebnisses werden nun vorgestellt. Jean Paul, Heinrich Heine, Herman Melville und Wolfdietrich Schnurre werden exemplarisch angeführt. Das Fazit des Autors für diesen Durchgang lässt sich mit ihm so formulieren: Während das achtzehnte Jahrhundert den Tod Gottes noch „albtraumhaft“ ahnt, das neunzehnte Jahrhundert darüber langsam zur „Gewissheit“ kommt, wird derselbe für das zwanzigste Jahrhundert in den „Schreckenserfahrungen der beiden Weltkriege und des Holocaust zu einem wirkmächtigen Symbol“ (298).
Als „Fazit und Ausblick“ (416) im Hinblick auf die Überleitung in den theologischen Teil beschreibt der Autor den Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzenden, „westeuropäische(n) Weg zum Massenatheismus“ (419) symbolisch als Weg von Hegel zu Nietzsche. Hegel stellt den Verlust des Bewusstseins vom transzendenten Absoluten fest und Nietzsche konstatiert den Verlust des „Bewusstsein(s) vom Verlust“ (417). Für die in den Kapiteln vorher ausführlich besprochenen – in der Folge seines eigenen systematischen Denkens bedeutsamen – Philosophen Martin Heidegger, Wolfgang Janke und Wilhelm Weischedel bleiben dann Haltungen des Offenseins, des Aushaltens radikaler Endlichkeit, des „offenen Nihilismus“ (424), die in den Zusammenhang einer Offenheit für ein qualitativ neues und tieferes „Ereignis“ (Martin Heidegger) von transzendenter Alterität gestellt werden können.
Anhand von Herbert Braun, Dorothee Sölle, Jürgen Moltmann, Eberhard Jüngel und Falk Wagner arbeitet David danach heraus, dass „der Tod Gottes als Tod des Sohnes und als Tod des Todes zu verstehen sei“ (604), ohne dass die „metaphysikkritischen Heimholungsaktionen“ (606) zu einem „eindeutigen Gebrauch“ (606) des Begriffs führen würden. David verlangt gegenüber diesen „Heimholungsaktionen“ ein „klare(s) Einlassen der Theologie auf den ‚gottlosen‘ Erfahrungsraum“ (611).
Auf den restlichen 159 Seiten unter dem Titel „Systematische Perspektiven und kritische Revisionen“ (613) erinnert David daran, dass zur Religion auch die nicht nur externe, sondern auch interne Religionskritik gehört. Eine heutige Theologie muss sich eine radikale Fragehaltung (Wolfgang Janke) angewöhnen und die Intention von Paul Tillich ernst nehmen, dass theologisch relevante Gedanken wesentlich auf einen „Gegenstand, sofern er über unser Sein und Nichtsein entscheidet“, bezogen sind (Tillich zitiert in 633). Eines der heute wichtigen „Signalwörter, hinter dem sich Narrative verbergen“ (641), ist die Rede vom Tode Gottes. Mit Wolf Schmids Kriteriologie gehört zu einem „Ereignis“ (alle Bestimmungen in 644) eine „Faktizität oder Realität“ von Veränderungen bzw. ihrer „Resultativität“. Sie führen zu einer „Zustandsveränderung“, die unvorhersehbar war („Imprädikabilität“) und die von einer breiten Weltbedeutung ist („Konsekutivität“). Damit ergibt sich eine „Irreversibilität“ der neuen Situation. Und weil das Ereignis weder üblich noch auf Wiederholung angelegt ist, eignet ihm endlich eine „Non-Iterativität“ (644). In diesen Hinsichten ist die Metapher vom Tode Gottes als „semantische Innovation“ (646) zu begreifen.
Dem vorausgesetzten innovativen Charakter der Erfahrung des Todes Gottes entspricht nach David eine radikale Fragehaltung im Zusammenhang des tiefen Bewusstseins der eigenen radikalen Endlichkeit unter dem Gesichtspunkt nicht nur des gottverfügten Sterbens, sondern auch des Geborenwerdens in ein Universum als vorgegebenen Gestaltungsraum, als Raum der Nachbildung des Tuns eines möglichen ersten Bildners. „Das … Nach-Denken des (de-)konstruktiven (Stör-)Potentials der Metapher ‚Gott ist todt!‘ für eine existenzialhermeneutische Neuinterpretation der Gehalte der christlichen Religion zur Kultivierung des Um-Denkens als Ausdruck der endlichen Freiheit des Menschen hat in allen seinen Teilen vor dem Vergessen des Todes Gottes – und Gottes – bewahrt und damit vor dem Vergessen der erst dadurch ermöglichten Gabe der Bildung des Selbst.“ (725)
Die Lektüre des Buches führt dazu, dass man sofort daran geht, Beispiele aus Philosophie und Theologie sowie aus Bildender Kunst, Musik und Literatur zu suchen, in denen der Tod Gottes zumindest eine Rolle spielt. Es ist ganz klar, dass man von dem Autor keinen Wendezeit-Vorschlag für ein epochales Problemlösen erwarten kann. Er arbeitet allerdings eine wesentliche Erlebnistönung unserer heutigen Kultur daraus. In dieser Hinsicht ist es eine vorzügliche Arbeit und ein Meilenstein im Kontext der Frage, was Grundelemente von Säkularisierung sind.
Geschichte, Deutung und Kritik eines Krisenphänomens
Tübingen: Mohr Siebeck Verlag. 2023
XIII, 860 Seiten
149,00 €
ISBN 978-3-16-154568-9