Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Rahel Jaeggi: Fortschritt und Regression

Wofür engagiert man sich? Gewiss gerne für eine bessere Zukunft! Rahel Jaeggis Verdienst ist es, die Frage genauer zu nehmen. Sie macht sich die Antwort schwerer als bei Utopien gestern und technologischen Verheißungen heute. Nach der Entzauberung der Moderne muss heute tatsächlich gefragt werden – wie geht „ein Wandel zum Besseren“ und wie vermeidet man einen „Wandel zum Schlechteren“. Jaeggi empfiehlt, sich am Vorbild der lernenden Organisation zu orientieren und mittels einer Lernkultur in der gesamten Breite der Gesellschaft für Fortschritt und gegen Regression wirksam zu werden. Jaeggi will dafür mit ihrem Buch ein zeitgemäßes Fortschrittsdenken liefern, das zugleich „zeitdiagnostisch“ sowie „philosophisch und methodisch“ vorgeht. Einwände natürlich keine.

Bedenken schon: Es wäre schön, weil übersichtlich, wenn es in der Welt immer noch nur schwarz oder weiß, Freund oder Feind gäbe. Leider ist die Wirklichkeit längst viel grauer, geopolitisch gesprochen: multipolarer, theoretisch ausgedrückt: komplexer. Zu komplex, um unsere Daseinsvorsorge auf ein Pro und Contra zu reduzieren; oftmals produziert die erste Lösung zugleich das zweite Problem. Ein aktuelles Beispiel: Bei den propalästinensischen Protesten an Pariser Universitäten vom Frühjahr 2024 demonstrierten Studenten gegen die Indifferenz ihrer eigenen politische Klasse im Angesicht des israelischen Kriegs gegen die Hamas. Dabei kam es zu Besetzungen von Hörsälen; eine Kommilitonin wurde als „Zionist“ bedrängt, obgleich man sich im Hörsaal ansonsten etwa durch gendersensible Sprache (wie Jaeggi) mit der Sache der Frauenrechte solidarisiert. Vor den Universitätsgebäuden wurden symbolisch rote Hände in die Höhe gestreckt; es interessierte nicht, dass in Paris zeitgleich Davidsterne und rote Hände auftauchten und als verdeckte Aktion russischer Geheimdienste zur Destabilisierung der französischen Zivilgesellschaft genutzt wurden. Soll der Feind meines Feindes wirklich mein Freund sein? Darf der studentische Kampf gegen Indifferenz neue Differenzen im Sinne alter Muster schaffen – im konkreten Fall Antisemitismus bedienen und Emanzipation zurückdrehen?

Jaeggi würde das gewiss bestreiten; das Problem ist aber, dass ihre „Kritische Theorie“ dergleichen nicht hinreichend im Blick hat, sondern lieber die Wirklichkeit weiterhin schön trennt in Schwarz und Weiß, Fortschritt und Regression. Für sie ist Fortschritt ein „Lernprozess“ und Regression eine „Lernblockade“. Dass die Richtigen (Demokratien) zuweilen (sich selbst) blockieren und die Falschen fleißig dazulernen (Rechtspopulismus), entgeht dabei. Genauso wenig ist es zielführend, sämtliche Steuerungsprobleme moderner Gesellschaften per se als „Probleme zweiter Ordnung“ zu begreifen und Fortschritt als Mittel zu ihrer Lösung anzusetzen. In Italien hat die postfaschistische Regierung gelernt, dass sie die Gesellschaft zu ihren Zwecken besser steuern kann, wenn die Ministerpräsidentin mehr Macht erhält – und hat prompt eine entsprechende Verfassungsänderung eingeleitet. Das ist aber weder ein Zeichen von Fortschritt („an Möglichkeiten“) noch spricht es für eine Beobachtung zweiter Ordnung, die immer Kontingenz voraussetzt und erhält. Das lehnt Jaeggi jedoch ausdrücklich als „relativistisch“ ab; Kontingenz sei nur ein „Schlagwort“. Nimmt man Jaeggi beim Wort, dann ist Italien leider ein Fall für den „Wandel im Wandel“, gewöhnlicher Fortschritt. Eigentlich ist das ein Unfall, der von ihr leider nicht bedacht wurde. Klar, sie würde das vermutlich nur als einen „regressiven Wandel im Wandel“ deuten, aber nur deshalb, weil sie zum Ende ihres Buchs mit Regression eben doch einen „Rückschritt“ meint.

Überraschend ist das nach der Lektüre eigentlich nicht, weil man dann verstanden hat, dass „Schritt halten“ für Jaeggi bedeutet, Marx wiederzubeleben, ja sogar das Phänomen der sozialen Protestbewegungen wie Luhmann in den 1990ern auf Probleme sozialer Systeme zu beziehen, statt der Welt von heute einen Weg aus ihrer empirischen Blindheit zu weisen – denn wir wissen nicht, wohin wir gehen, weil wir gar nicht wissen, wo wir sind: Es nutzt nichts, Unterstellungen und Werkzeuge aus der Welt von gestern anzulegen; dann weiß man nur, dass heute nicht wie gestern ist. Progressive Zeitdiagnosen brauchen im Sinne des Fortschritts in der Tat „kein Ziel“, sie müssen die Zukunft nicht kennen, aber in der Gegenwart ein Verhältnis zu ihr aufbauen. Das Problem, von dem Jaeggi sagt, dass Gesellschaften es lösen, weil sie kein Ziel haben, ist allerdings weniger, dass wir die Zukunft nicht angemessen gestalten. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, von wo wir starten, solange wir keine Zeitdiagnostik zur Verfügung haben, die das Heute im Heute bestimmt, mit Methoden von heute und anhand von Phänomenen von heute. Dazu fehlt auch nach der Neuerscheinung von Jaeggi jeglicher Theorieansatz. Dafür, dass sie an der Fragwürdigkeit unserer Lage arbeitet, wurde sie jedoch mit Recht von der Kritik gefeiert.

Berlin: Suhrkamp Verlag. 2023
254 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-518-58714-0

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